Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
»Bewahrung des sprachlichen und kulturellen Erbes« argumentiert und hätte selber nie im Leben jemanden »voussoyiert«. Renie gähnte gelangweilt und stellte um auf einen Reisebericht über Urlaub in Tasmanien, traumhaft schöne Bilder, die über sie hinwegschwappten und ihre quälenden Gedanken betäubten. Einen kurzen Augenblick lang wünschte sie, sie hätte eine von diesen sündteuren Anlagen mit voller sensorischer Immersion, damit sie sich tatsächlich an diesen Strand begeben, die Apfelblüten riechen, den Sand unter den Füßen und die Luft der Urlaubsfreiheit fühlen konnte, die ganzen Eindrücke, die so aufwendig in das Programm eingeschrieben worden waren.
Alles, was ihr half, die ständig wiederkehrende Erinnerung an die eingezogenen Schultern ihres Vaters und an Stephens blicklose Augen abzuschütteln.
> Als das Piepsen sie weckte, griff Renie nach ihrem Pad. Acht Uhr morgens, aber das war nicht ihr Wecksignal. Ob es die Klinik war?
»Annehmen!« rief sie. Nichts geschah.
Während sie sich mühsam in eine sitzende Position brachte, begriff Renie schließlich, daß das Geräusch nicht vom Telefon, sondern von der Türsprechanlage kam. Sie zog sich einen Bademantel über und tapste benommen durchs Wohnzimmer. Ihr Sessel lag auf der Seite wie die ausgedörrte Leiche eines fremdartigen Tieres, das Opfer von Long Josephs spätnächtlicher und volltrunkener Heimkehr. Sie lehnte sich gegen den Sprechknopf.
»Hallo?«
»Frau Sulaweyo? Hier ist !Xabbu . Tut mir leid, wenn ich störe.«
» !Xabbu ? Was machst du denn hier?«
»Ich werde es erklären – es ist nichts Schlimmes oder Erschreckendes.«
Sie schaute sich in der Wohnung um: in den besten Zeiten schlampig, aber jetzt deutlich gezeichnet von ihrer ständigen Abwesenheit. Aus dem Zimmer ihres Vaters drangen grollende Schnarchtöne. »Ich komm runter. Wart einen Moment.«
!Xabbu wirkte völlig normal, abgesehen davon, daß er ein sehr sauberes weißes Hemd anhatte. Verwirrt und ein wenig ratlos musterte Renie ihn von Kopf bis Fuß.
»Ich hoffe, ich störe nicht über Gebühr«, sagte er lächelnd. »Ich war heute morgen schon in der Hochschule. Ich mag es, wenn es still ist. Aber dann kam das mit der Bombe.«
»Schon wieder eine? O Gott!«
»Keine richtige – jedenfalls soweit ich weiß. Nur eine telefonische Drohung. Die ganze Hochschule wurde geräumt. Ich dachte mir, du wüßtest es vielleicht noch nicht, deshalb wollte ich dir eine überflüssige Fahrt ersparen.«
»Vielen Dank. Wart mal kurz.« Sie zog ihr Pad aus der Tasche hervor und schaute im Collegesystem nach Post. Es gab eine allgemeine Mitteilung von der Rektorin, die besagte, die TH bleibe bis auf weiteres geschlossen, so daß !Xabbu ihr tatsächlich eine Fahrt erspart hatte, aber sie fragte sich plötzlich, weshalb er sie nicht einfach angerufen hatte. Sie sah auf; er lächelte immer noch. Fast unvorstellbar, daß hinter diesen Augen Falschheit sitzen sollte – aber warum war er den ganzen Weg nach Pinetown hinausgefahren?
Sie bemerkte die Bügelfalten in dem weißen Hemd und hatte auf einmal einen verstörenden Gedanken. Lief hier ein Liebesfilm ab? War der kleine Buschmann mit dem Vorsatz gekommen, sie um eine Art Rendezvous zu bitten? Sie wußte nicht so recht, wie ihr dabei zumute war, aber das Wort »unbehaglich« kam ihr in den Sinn.
»Tja«, sagte sie langsam, »da die TH geschlossen ist, habe ich wohl einen freien Tag.« Sie sprach mit Absicht in der Einzahl.
»Dann würde ich meine Dozentin gern irgendwohin ausführen. Zum Frühstück?« !Xabbus Lächeln verzitterte und erlosch dann, und an seine Stelle trat ein Blick von beunruhigender Intensität. »Du warst in letzter Zeit sehr traurig, Frau … Renie. Du warst sehr traurig, aber mir warst du trotzdem eine gute Freundin. Ich glaube, jetzt bist du es, die einen Freund braucht.«
»Ich … denke …« Sie zögerte, aber kam auf keinen triftigen Grund, nicht anzunehmen. Es war erst halb neun, und die Wohnung erschien ihr wie Gift. Ihr kleiner Bruder lag in einem Sauerstoffzelt, so unerreichbar, als wäre er tot, und bei dem Gedanken, in einer Küche mit ihrem Vater zu sein, wenn er sich in ein paar Stunden mühsam aus den Federn quälte, wurden ihr Nacken und ihre Schultern hart wie ein zugezogener Knoten. »Gut«, sagte sie. »Gehen wir.«
Wenn !Xabbu romantische Absichten hatte, ließ er sie jedenfalls nicht erkennen. Auf dem Weg in das Geschäftsviertel von Pinetown schien er alles
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