Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
gebraucht hatten, wenn wieder einmal die Reste eines caliguläischen Gelages vor ihren Augen abgeräumt wurden.
Sie war dankbar, daß !Xabbu darauf verzichtete, der Frage weiter nachzugehen. In Augenblicken wie diesen wurde ihr klar, wie anders seine Lebenseinstellung wirklich war. Sein Englisch war besser als das ihres Vaters, und seine Intelligenz und rasche Einfühlungsgabe halfen ihm, viele sehr subtile Zusammenhänge zu erfassen. Aber er war nicht wie sie, ganz und gar nicht – er hätte von einem anderen Planeten sein können. Wieder überkam Renie ein diffuses Schamgefühl, als sie erkannte, daß ihre Einstellung eher der eines reichen weißen Teenagers in England oder Amerika glich als der dieses jungen Afrikaners, der nur wenige hundert Meilen entfernt von ihr aufgewachsen war.
Nachdem er ein paar Happen Reis gegessen hatte, sah !Xabbu auf. »Ich bin jetzt schon in zwei Cafes gewesen«, sagte er. »In dem hier und in dem in der Lambda Mall.«
»Welches ist dir lieber?«
Er grinste. »Hier ist das Essen besser.« Er nahm noch einen Happen und piekste dann mit der Gabel in die glänzende Banane, wie um sich zu vergewissern, daß sie tot war. »Es kommt noch etwas hinzu. Erinnerst du dich, daß ich dich nach Geistern im Netz fragte? Ich sehe das Leben dort, aber ich kann es nicht fühlen, und das drückt mir auf das Gemüt. Es ist schwer zu erklären. Aber hier gefällt es mir viel besser.«
Für Renie war das Netz schon so lange eine Selbstverständlichkeit, daß sie darin manchmal tatsächlich eine Art Kontinent sah, einen Kontinent von riesigen Ausmaßen, aber genauso geographisch real wie Europa oder Australien. Doch !Xabbu hatte recht – es war nicht real. Es war eine Übereinkunft, ein gemeinsames So-tun-als-ob vieler Leute. In gewisser Hinsicht war es ein Geisterland … aber alle Geister spukten wild durcheinander.
»Ja, das RL hat doch was für sich.« Wie um es sich beweisen, setzte sie den Becher mit sehr gutem, sehr starkem Kaffee an die Lippen. »Keine Frage.«
»Und jetzt, Renie, sage mir bitte, was dich quält. Du hast mir erzählt, dein Bruder sei krank. Ist es das, oder hast du noch andere Probleme? Ich hoffe, ich bin nicht zu aufdringlich.«
Nach anfänglicher Verlegenheit schilderte sie ihren letzten Besuch bei Stephen und die jüngste Version ihres ewigen Streits mit Long Joseph. Als sie einmal angefangen hatte, wurde es zusehends leichter zu reden, die hoffnungslose Frustration zu beschreiben, die ihr der tägliche Gang zu einem jedesmal unveränderten Stephen und die immer qualvoller werdende Spirale der Beziehung zu ihrem Vater bereitete. !Xabbu hörte zu und stellte nur Fragen, wenn sie vor einem peinlichen Eingeständnis ein wenig zögerte, aber sie beantwortete die Fragen alle und stellte fest, daß sie immer freimütiger wurde. Sie war es nicht gewohnt, sich zu öffnen, ihre geheimen Ängste zu zeigen; es fühlte sich gefährlich an. Aber je mehr ihr Frühstück sich in die Länge zog und der Pulk der anderen frühen Gäste sich langsam verlief, um so mehr verspürte sie auch eine Erleichterung darüber, endlich reden zu können.
Sie süßte gerade ihre dritte Tasse Kaffee, als !Xabbu plötzlich fragte: »Wirst du heute hingehen? Zu deinem Bruder?«
»Ich gehe normalerweise am Abend. Nach der Arbeit.«
»Darf ich mitkommen?«
Renie zauderte. Zum erstenmal, seit sie hier Platz genommen hatten, fragte sie sich, ob !Xabbu vielleicht ein Interesse hatte, das über bloße Kameradschaft hinausging. Sie zündete sich eine Zigarette an, um die Unsicherheit zu kaschieren. Stellte er sich vor, der Mann in ihrem Leben zu werden, ihr Beschützer? Es hatte seit Del Ray niemand von Bedeutung mehr gegeben, und diese Beziehung (sie fand die Erkenntnis verblüffend und ein wenig erschreckend) lag schon Jahre zurück. Außer in kurzen Augenblicken der Schwäche spät nachts wollte sie nicht, daß jemand für sie sorgte. Sie war ihr Leben lang stark gewesen und konnte sich nicht vorstellen, an jemand anderen Verantwortung abzugeben. Auf jeden Fall hegte sie für diesen kleinen jungen Mann keinerlei romantische Gefühle. Sie schaute ihn lange an, während er, vielleicht um ihr genau dazu Gelegenheit zu geben, die vor dem schmutzigen Caféfenster geparkte Kolonne farbenprächtiger Laster betrachtete.
Wovor hast du Angst, Frau? fragte sie sich. Er ist ein Freund. Nimm ihn bei seinem Wort, solange er dein Vertrauen nicht enttäuscht.
»Ja, komm mit. Es wäre ganz nett, Gesellschaft zu
Weitere Kostenlose Bücher