Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
in den Augen sah sie, wie die nächste Busladung Fahrgäste auf den Bürgersteig schwappte. Mehrere Leute starrten die hochgewachsene, weinende Frau an, die von einem kleinen Buschmann in einem altmodischen Anzug getröstet wurde. Die Vorstellung, wie absurd sie und !Xabbu aussehen mußten, brachte sie vollends aus der Fassung, und obwohl sie immer noch mit unverminderter Heftigkeit weinte, lachte sie obendrein. Ein kleiner, abgespaltener Teil von ihr, der mitten in dem Gefühlsaufruhr völlig unbewegt zu bleiben schien, fragte sich, ob das wohl jemals aufhörte, oder ob sie hier festhing wie ein abgestürztes Programm und von Überdrehtheit in Kummer überkippen mußte und zurück, bis der Himmel dunkel wurde und alle nach Hause gingen.
Schließlich hörte es auf – mehr aus Erschöpfung als aus wiedergewonnener Kontrolle, wie Renie bitter vermerkte. !Xabbu ließ ihre Hand los. Da sie ihn noch nicht anschauen konnte, langte sie in ihre Jackentasche und fand dort ein zerknülltes Papiertaschentuch, mit dem sie sich vorher den Lippenstift abgetupft hatte und mit dem sie sich jetzt, soweit möglich, die Tränen trocknete und die Nase putzte. Als sie ihrem Freund endlich in die Augen sah, tat sie es mit einem gewissen Trotz, der zu sagen schien, er solle sich ja hüten, sich ihre Schwäche zunutze zu machen.
»Ist die Traurigkeit jetzt weniger schmerzvoll?«
Sie drehte sich wieder weg. Er schien es für völlig natürlich zu halten, daß man sich vor dem Klinikum Durban Outskirt wie ein Idiot aufführte. Vielleicht war es das. Die Scham hatte bereits nachgelassen und war jetzt nur noch eine leise tadelnde Stimme im Hinterkopf.
»Es geht mir besser«, sagte sie. »Ich glaube, wir haben unsern Bus verpaßt.«
!Xabbu zuckte mit den Achseln. Renie beugte sich vor, nahm seine Hand und drückte sie kurz und fest. »Danke, daß du so viel Geduld mit mir hast.« Seine ruhigen braunen Augen machten sie nervös. Was erwartete er von ihr – daß sie auf ihren Zusammenbruch stolz war? »Eine Sache. Eine Sache in diesem Lied.«
»Ja?« Er betrachtete sie aufmerksam. Sie verstand nicht warum, aber sie konnte den prüfenden Blick nicht ertragen. Nicht jetzt, nicht mit geschwollenen Lidern und laufender Nase. Sie schlug den Blick auf ihre Hände nieder, die jetzt wieder sicher in ihrem Schoß lagen.
»Wo es heißt: ›Leute, bestimmte Leute waren es, die mir den Faden zerrissen‹ … Weil… es gibt irgendwo Leute – es muß welche geben.«
!Xabbu kniff die Augen zusammen. »Ich verstehe nicht.«
»Stephen ist nicht einfach … krank. Daran glaube ich nicht mehr. Eigentlich hab ich nie daran geglaubt, auch wenn ich das Gefühl nie richtig einordnen konnte. Irgend jemand – bestimmte Leute, wie in dem Lied – hat das mit ihm gemacht. Ich weiß nicht wer oder wie oder warum, aber ich weiß es.« Ihr Lachen klang gezwungen. »Ich weiß, das sagen alle Verrückten. ›Ich kann’s nicht erklären, ich weiß einfach, daß es wahr ist.‹«
»Du denkst das wegen der Recherche? Wegen der Sachen, die wir in der Mediathek gesehen hast?«
Sie nickte und richtete sich auf. Sie spürte die Kräfte wiederkehren. Handeln – das war es, was not tat. Weinen nützte nichts. Probleme wollten angepackt werden. »Richtig. Ich weiß nicht, was sie bedeuten, aber es hat etwas mit dem Netz zu tun.«
»Aber du sagtest, das Netz sei kein realer Ort – was dort geschieht, sei nicht wirklich. Wenn jemand dort ißt, nährt es ihn nicht. Wie könnte irgend etwas im Netz jemandem ein Leid zufügen, ein Kind in einen Schlaf versetzen, aus dem es nicht mehr aufwacht?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich find’s raus, darauf kannst du dich verlassen.« Plötzlich mußte Renie darüber grinsen, wie man in den kritischsten Situationen im Leben immer wieder auf Klischees verfiel. Das war ein Spruch, den die Leute in Krimis immer sagten – er war wenigstens einmal in dem Buch vorgekommen, das sie Stephen gerade vorlas. Sie stand auf. »Ich will nicht auf den nächsten Bus warten, und ich kann diese Bank nicht mehr sehen. Komm, wir gehen was essen – oder hast du was dagegen? Du hast schon einen ganzen Tag wegen mir und meinen Problemen vertrödelt. Wie weit bist du mit deiner Arbeit?«
!Xabbu grinste verschmitzt. »Ich arbeite sehr hart, Frau Sulaweyo. Die Aufgaben für diese Woche habe ich bereits erledigt.«
»Dann komm doch mit. Ich brauch was zu essen und Kaffee – vor allem Kaffee. Soll mein Vater ruhig mal allein zurechtkommen. Das wird ihm
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