Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
ganz gut tun.«
Entschlossenen Schritts marschierte sie los und fühlte sich dabei so leicht wie seit Wochen nicht mehr, als ob sie eine klatschnasse Jacke ausgezogen hätte.
»Es muß etwas geben, was wir in Erfahrung bringen können«, sagte sie. »Alle Probleme haben Lösungen. Man muß sie bloß in Angriff nehmen.«
!Xabbu gab darauf keine Antwort, sondern ging nur schneller, um mit ihren längeren Schritten mitzuhalten. Der graue Nachmittag bekam einen warmen Ton, als überall ringsherum orangerote Punkte aufglühten. Die Straßenlaternen gingen an.
> »Hallo, Mutsie. Dürfen wir reinkommen?«
Eddies Mutter stand in der Tür und ließ den Blick mit einer Mischung aus Neugier und Mißtrauen von Renie zu !Xabbu schweifen. »Was willst du?«
»Ich will mit Eddie reden.«
»Wieso? Hat er was ausgefressen?«
»Ich will bloß mal mit ihm reden.« Renie war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren, und das wäre kein guter Auftakt gewesen. »Komm schon, du kennst mich doch. Laß mich nicht hier vor der Tür stehen wie eine Fremde.«
»Tut mir leid. Kommt rein.« Sie trat zur Seite, um sie einzulassen, und deutete dann auf das leicht eingesunkene Sofa, das ein bunter Überwurf bedeckte. Renie schob !Xabbu sanft darauf zu. Eine andere Sitzgelegenheit hätte es sowieso nicht gegeben – in der Wohnung herrschte noch genauso ein Schlamp wie in der Nacht, als Stephen krank geworden war.
Wahrscheinlich noch derselbe Schlamp, dachte Renie und schämte sich sofort für ihre Gehässigkeit.
»Der Junge badet grade.« Mutsie bot ihnen nichts an und setzte sich nicht zu ihnen. Es entstand eine verlegene Pause. Eddies beide Schwestern lagen wie Götzenanbeter vor dem Wandbildschirm auf dem Bauch und sahen zwei Männern in knallbunten Jumpsuits zu, die sich in einem großen Bottich mit irgendeiner klebrigen Masse abzappelten. Mutsie drehte immer wieder den Kopf danach um; sie wollte sich offensichtlich dazusetzen und mitschauen. »Das mit Stephen tut mir leid«, sagte sie schließlich. »Er ist ein guter Junge. Wie geht’s ihm?«
»Immer gleich.« Renie hörte den Krampf in ihrer Stimme. »Die Ärzte wissen nicht, was es ist. Er … schläft einfach.« Sie schüttelte den Kopf, versuchte zu lächeln. Es war nicht Mutsies Schuld. Sie war keine großartige Mutter, aber Renie glaubte nicht, daß sie irgendeine Schuld daran traf, was mit Stephen passiert war. »Vielleicht könnte Eddie irgendwann mal mitkommen und ihn besuchen. Die Ärztin meinte, es wäre gut, wenn er bekannte Stimmen hört.«
Mutsie nickte, aber blickte unsicher drein. Gleich darauf ging sie in den Flur. »Eddie! Beeil dich, Junge. Stephens Schwester will mit dir reden.« Kopfschüttelnd kam sie wieder herein, als ob sie eine schwierige und undankbare Aufgabe erledigt hätte. »Er bleibt immer stundenlang drin. Manchmal schau ich mich um und frag: ›Wo ist der Bengel? Ist er tot oder was?‹« Sie unterbrach sich. Ihre Augen wurden rund. »Tut mir leid, Irene.«
Renie winkte ab. Sie konnte förmlich spüren, wie !Xabbu die Brauen hochzog. Sie hatte ihm ihren richtigen Namen nie gesagt. »Schon gut, Mutsie. Ach, ich hab dir !Xabbu gar nicht vorgestellt. Er ist ein Student von mir. Er hilft bei meinen Recherchen. Wir wollen schauen, ob wir etwas über Stephens Zustand rausfinden können.«
Mutsie warf dem Buschmann auf ihrem Sofa einen Blick zu. »Was für Recherchen?«
»Ich möchte prüfen, ob die Ärzte vielleicht was übersehen haben – einen Artikel in einer medizinischen Fachzeitschrift, irgendwas.« Renie beschloß, es dabei zu belassen. Mutsie hatte sich zweifellos schon ihre Meinung darüber gebildet, wer und was !Xabbu für Renie war: Eine Erklärung, sie wollten herausfinden, ob das Netz Stephen krank gemacht haben könnte, würde die Geschichte nur noch unglaubhafter erscheinen lassen. »Ich will einfach alles tun, was ich kann.«
Mutsies Aufmerksamkeit wurde wieder vom Wandbildschirm abgelenkt. Die beiden Männer, mit klebrigem Schleim überzogen, versuchten die Wände eines schaukelnden, durchsichtigen Bottichs zu erklimmen. »Natürlich«, sagte sie. »Du tust alles, was du kannst.«
Renie überlegte kurz, was dieser Spruch aus dem Mund einer Frau wert war, die ihre Kinder einmal übers Wochenende mit dem Bus zu ihrer Schwester geschickt hatte, ohne daran zu denken, daß ihre Schwester ans andere Ende von Pinetown gezogen war. Renie wußte davon, weil die Kinder zuletzt bei ihr vor der Tür gestanden hatten und sie einen
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