Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
sie einige dieser sagenumwobenen Erfahrungen machen und Sachen »sehen« wollten – irgendwelchen Pornokram, vermutete Renie, entweder Sex oder Gewalt –, aber statt dessen hatten sie die Orientierung verloren und waren stundenlang durch Mister J’s geirrt. Zum Teil war es sehr erschreckend und verwirrend gewesen, zum Teil bloß spannend und absonderlich, aber Eddie gab an, er könne sich an wenig von dem erinnern, was sie tatsächlich gesehen hatten. Zuletzt hatten einige Männer, darunter ein ziemlich unangenehmer dicker Mann – das heißt ein Sim, der wie einer aussah –, sie nach unten in einen besonderen Raum geschickt. Soki war in eine Art Falle gestürzt, und die anderen beiden waren irgendwie entkommen und hatten Renie gerufen.
»Und an mehr kannst du dich nicht erinnern? Auch nicht, wenn es Stephen helfen könnte, wieder gesund zu werden?«
Zum erstenmal an diesem Abend erwiderte der Junge Renies Blick und hielt ihn. »Ich dupp nicht.«
»Das heißt lügen«, erklärte sie !Xabbu . »Das hab ich auch nicht behauptet, Eddie. Aber ich denke, du kannst dich ein bißchen besser erinnern. Versuch’s doch bitte.«
Er zuckte mit den Achseln, aber jetzt, wo sie seine Augen deutlich sehen konnte, bemerkte sie etwas Undefinierbares in seinem Blick. War sie wirklich sicher, daß er die Wahrheit sagte? Er wirkte verängstigt, und dabei waren sie längst über den Punkt hinaus, wo er von Renie noch eine Bestrafung hätte befürchten müssen.
»Na schön, wenn dir noch was einfällt, ruf mich an. Bitte, es ist sehr wichtig.« sie erhob sich vom Sofa. Eddie hatte wieder den Kopf eingezogen und machte Anstalten, sich in den Flur zu verziehen. »Eine Sache noch«, sagte sie. »Was ist mit Soki?«
Eddie drehte sich mit großen Augen zu ihr um. »Er ist krank. Er ist bei seiner Tante.«
»Ich weiß. Ist er wegen irgendwas krank geworden, was passiert ist, als ihr zusammen im Netz wart? Überleg mal, Eddie.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Er ist nicht wieder zur Schule gekommen.«
Renie kapitulierte. »Schieb ab.« Wie ein unter Wasser festgehaltener und schließlich losgelassener Korken flog Eddie förmlich aus dem Zimmer. Renie wandte sich Mutsie zu, die neben ihren Töchtern auf dem Teppich lag. »Hast du die Nummer von Sokis Tante?«
Schwer seufzend quälte sich Mutsie hoch, als ob man sie aufgefordert hätte, mehrere Zentner Steine die Drakensberge hochzuschleppen.
»Kann sein, daß sie hier irgendwo ist.«
Renie blickte !Xabbu an, um ihm ihre Verärgerung zu signalisieren, aber der kleine Mann starrte widerwillig gebannt auf den Wandbildschirm, wo einer der klebrigen Männer gerade versuchte, ein lebendiges Huhn zu fangen, zu töten und zu verzehren. Das Gelächter des Publikums, eine durch den Prozessor gejagte Konserve, schallte wie Motorengeknatter durch das kleine Zimmer.
> Die letzten Kurse des Tages waren aus, die Studenten strömten auf die Korridore. Renie beobachtete den kaleidoskopischen Zug der Farben über ihre Bürofenster und dachte dabei über Menschen und ihr Kontaktbedürfnis nach.
Am Ende des vorigen Jahrhunderts hatte man prophezeit, daß der Unterricht der Zukunft durchweg über Video laufen würde oder daß Lehrer sogar völlig von interaktiven Lehrmaschinen und Hypertext-Infobanken abgelöst würden.
Natürlich hatten sich derartige Vorhersagen schon früher als falsch erwiesen. Renie fiel ein, was einer ihrer Dozenten ihr einmal erzählt hatte: »Als vor hundert Jahren die Tiefkühlkost auf den Markt kam, erklärten die professionellen Zukunftspropheten, die Menschheit würde nie wieder kochen. Statt dessen bauten dreißig Jahre später die Leute in gutbürgerlichen Vorstädten überall in der Ersten Welt ihre eigenen Kräuter an und backten ihr eigenes Brot.«
Ähnlich unwahrscheinlich war es, daß die Menschen jemals über das Bedürfnis nach persönlichem Kontakt hinauswachsen würden. Direkte Vorlesungen und Einzelstunden nahmen zwar auf den Lehrplänen keinen ganz so großen Raum mehr ein wie früher, als Bücher die einzige Form gespeicherter Information gewesen waren, aber diejenigen, die behauptet hatten, daß dieser zeitraubende und unwirtschaftliche menschliche Kontakt aussterben würde, hatten sich offensichtlich geirrt.
Eine von Renies Freundinnen aus dem Jura-Vorstudium hatte einen Polizisten geheiratet. Bevor sie und die Freundin sich aus den Augen verloren hatten, war Renie ein paarmal mit ihnen ausgegangen, und sie konnte sich erinnern,
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