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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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daß der Mann über die Kriminologie so ziemlich das gleiche gesagt hatte: Einerlei, wie viele Apparaturen zur Aufdeckung der Wahrheit erfunden wurden, Instrumente, mit denen man den Herzschlag, die Hirnwellen, die Intonation oder elektrochemische Veränderungen der Haut analysieren konnte, am genauesten wußte man als Polizist doch, woran man war, wenn man einem Verdächtigen ins Auge schauen und Fragen stellen konnte.
    Das Bedürfnis nach wirklichem Kontakt war somit allem Anschein nach allgemein menschlich. Wie viele Veränderungen es auch in der menschlichen Umwelt gegeben haben mochte – die meisten davon vom Menschen selbst bewirkt –, das menschliche Gehirn war immer noch weitgehend das gleiche Organ, das schon die Urahnen der Menschheit vor einer Million Jahren in der Olduwaischlucht gehabt hatten. Es nahm Informationen auf und versuchte sie sich zu deuten. Es gab keine Unterscheidung von »wirklich« und »unwirklich«, jedenfalls nicht auf den elementarsten, instinkthaften Ebenen von Furcht, Begehren und Selbsterhaltung.
    Renie war wegen Stephens Freund Soki über diese Dinge ins Grübeln gekommen. Sie hatte seine Mutter früh am Morgen am Telefon erreicht, aber Patricia Mwete – die Renie nie sehr gut gekannt hatte – war hart geblieben: Sie wollte nicht, daß Renie ins Haus kam. Soki sei krank gewesen, sagte sie, und er sei gerade erst auf dem Weg der Besserung. Es würde ihn zu sehr aufregen. Nach einer langen und ein wenig hitzigen Auseinandersetzung hatte Patricia ihr schließlich gestattet, mit Soki am Telefon zu reden, wenn er am Nachmittag von einem nicht näher definierten »Termin« zurückkam.
    Der Auslöser von Renies Gedankengang war zunächst der Vergleich des unbefriedigenden telefonischen Kontakts mit einer tatsächlichen Begegnung gewesen, aber als sie sich jetzt die größeren Zusammenhänge vor Augen führte, wurde ihr langsam klar, daß sie viel Zeit darauf würde verwenden müssen, Unwirkliches von Wirklichem zu trennen, wenn sie die Suche nach der Ursache von Stephens Krankheit fortsetzen wollte, zumal wenn sein Aufenthalt im Netz dafür verantwortlich war.
    Auf jeden Fall konnte sie zur Zeit nicht einmal daran denken, ihre Überlegungen an offizielle Stellen weiterzugeben, an die Krankenhausverwaltung sowenig wie an die Polizei. Unheilsmeldungen über die VR hatte es von jeher gegeben, vor allem in den Anfangstagen, genau wie bei allen neuen Technologien, und bei Usern von extrem gewalttätigen Simulationen waren sicher gelegentlich posttraumatische Streßsyndrome aufgetreten, aber keine der anerkannten Fallgeschichten glich der von Stephen auch nur annähernd. Außerdem war trotz ihrer nicht recht faßbaren Gewißheit, daß ihm online etwas zugestoßen war, ein irgendwie bestehender Zusammenhang zwischen Netzbenutzung und Komafällen noch kein wirklicher Beweis. Man könnte – und würde – tausend andere Faktoren als genauso denkbare Ursachen der Übereinstimmung anführen.
    Aber noch erschreckender fand sie die Vorstellung, den Beweis der Wahrheit auf eigene Faust im Netz anzutreten. Eine Kriminalpolizistin, die das volle Gewicht des Gesetzes und ihrer Ausbildung in die Waagschale werfen konnte, täte sich dennoch schwer, die Masken und Täuschungen zu durchdringen, die Netuser sich schufen, ganz zu schweigen vom UN-Recht auf den Schutz ihrer Privatsphäre.
    Und ich? dachte sie. Wenn ich recht habe und wenn ich mich darauf einlasse, dann bin ich wie Alice, die einen Mord im Wunderland zu lösen versucht.
    Ein Klopfen an ihrer Bürotür unterbrach sie in ihren düsteren Gedanken. !Xabbu steckte den Kopf herein. »Renie? Störe ich?«
    »Komm rein. Ich wollte dich gerade anmailen. Ich bin dir wirklich sehr dankbar, daß du gestern so viel Zeit für mich erübrigt hast. Ich mache mir Vorwürfe, daß ich dich von deiner Freizeit und deinen Studien abgehalten habe.«
    !Xabbu schaute ein wenig verlegen drein. »Ich möchte gern dein Freund sein. Freunde helfen sich. Außerdem ist es, das muß ich zugeben, eine ganz eigentümliche und spannende Situation.«
    »Das kann sein, aber du hast schließlich dein eigenes Leben. Sitzt du nicht abends gewöhnlich in der Mediathek und studierst?«
    Er lächelte. »Die Hochschule war geschlossen.«
    »Natürlich.« Sie schnitt eine Grimasse und zog eine Zigarette aus ihrer Jacke. »Die Bombendrohung. Es ist ein schlechtes Zeichen, wenn sie so normal werden, daß man mich erst daran erinnern muß, daß es eine gab. Und weißt du was? Sonst hat

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