Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
letztlich nichts geändert. Den kleinen Jungen in dir, den Teil, der geglaubt hatte, wenn du nur laut genug weintest, würde jemand kommen und alles in Ordnung bringen, gibt es heute nicht mehr, er wurde genauso gründlich und total ausradiert, wie der Rest von dir es auch bald sein wird.
Irgendeiner von der Strafvollzugsfirma steht in der Tür, ein haifischgrauer Schatten. Du schaust dich nach ihm um, aber Jankels Hüfte ist im Weg. Ein rascher Spritzer von etwas Kaltem in deiner Armbeuge, und du richtest deine Augen wieder auf das verkniffene Gesicht des Arztes. Alkohol? Wozu? Sie betupfen deinen Arm, damit du keine Infektion bekommst. Ein kleiner Gefängnisscherz vielleicht, subtiler, als du erwartet hättest. Du fühlst, wie sich etwas Spitzes durch die Haut bohrt und deine Ader sucht, aber irgend etwas geht schief. Der Arzt flucht still vor sich hin – nur eine Andeutung von Panik unter der Oberfläche – und zieht die Nadel wieder heraus, sticht abermals nach der Ader, noch einmal, zweimal, dreimal ohne Erfolg. Es tut weh, fühlt sich an, als ob dir jemand mit der Nähmaschine über den Arm fährt. Du spürst etwas in deiner Brust aufsteigen, das entweder ein Lachen oder ein langer, blubbernder Schrei sein könnte.
Du würgst es natürlich runter. Gott bewahre, daß du hier unangenehm auffällst. Sie wollen dich doch bloß töten.
Deine Haut ist ganz feucht geworden. Die Leuchtstoffröhren flimmern und schwimmen, als die Stahlspitze endlich ihr Ziel findet und der Arzt sie mit einem Pflaster festklebt. Der andere Wärter, Simmons oder wie er heißt, beugt sich über dich und zieht den Gurt straff, damit du dir nicht die Nadel rausreißt. Sie fangen mit der nächsten Nadel an.
Die ganze Szene hat etwas Verblüffendes. Es ist das Ende der Welt, aber die Leute um dich herum benehmen sich, als ob sie etwas ganz Alltägliches verrichteten. Nur die winzigen Schweißperlen auf der Oberlippe und der gerunzelten Stirn des Arztes deuten auf das Gegenteil hin.
Als sie dich glücklich angegurtet und gespickt haben, tritt der graue Anzugträger am Rand deines Gesichtsfeldes vor. Du hast sein Gesicht noch nie gesehen, und du fragst dich kurz, wo er wohl in der Firmenhierarchie rangiert – ist er ein Oberwärter oder ein Unterwärter? Dann wird dir klar, mit was für einem Blödsinn du deine letzten Augenblicke vergeudest, und ein jäher Ekel überkommt dich.
Der Mund über dem kantigen Kinn gibt ein paar gebührend beileidige Platitüden von sich, dann hebt dieser weiße Mann eine Aktenmappe hoch und liest dir die Nichthaftungsklausel der Strafvollzugsgesellschaft vor, anschließend ihre gesetzliche Befugnis, dich mit Natriumpentothal und daraufhin mit Kaliumchlorid vollzupumpen, bis dein Herz zu schlagen aufhört und deine Hirnkurve ein Strich ist. Früher wurde noch ein dritter tödlicher Stoff eingespritzt, aber die Buchhaltung meinte, das wäre des Guten zuviel.
Der Arzt hat die Kochsalzinfusion in Gang gesetzt, aber du spürst nichts in deinem Arm als die lästige Nadel und ein Stechen von den fehlgeschlagenen Versuchen.
Hast du das verstanden? fragt dich der weiße Mann mit dem kantigen Kinn. Na klar, möchtest du ihn anfauchen. Du verstehst das besser, als ihm klar ist. Du verstehst, daß sie schlicht und einfach den Abfall entsorgen und das Leergut recyceln. Als Nährlösung für Hydrokulturen nützt du der Gesellschaft weitaus mehr denn als hungriger Mund in einer teuren privatisierten Zelle.
Du möchtest ihn anfauchen, aber du läßt es. Denn ein Blick in die blaßblauen Augen dieses Mannes macht dir auf einmal klar, so klar, wie es dir bisher gar nicht war, daß du wirklich sterben wirst. Niemand wird hinter dem Sofa hervorspringen und dir sagen, es sei bloß ein Scherz gewesen. Und ein Netzfilm ist es auch nicht – keine Söldnertruppe wird die Gefängnistore aufsprengen und dich befreien. Gleich wird der Arzt auf den Knopf drücken, und die Flasche voll klarer Flüssigkeit – klar müssen sie auf jeden Fall sein, diese Flüssigkeiten, nicht wahr, farblos, genau wie dieser weiße Mann mit dem kantigen Kinn und den stumpfen Augen, der abgeordert wurde, dir den Hinrichtungsbefehl vorzulesen –, diese Flasche wird anfangen, in die Hauptleitung zu fließen. Und dann wirst du sterben.
Du versuchst zu sprechen, doch es geht nicht. Du zitterst vor Kälte. Jankel zieht dir die dünne Klinikdecke bis an die Brust hoch, vorsichtig, um nicht an die durchsichtige Röhre zu kommen, die in deinem Arm steckt wie
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