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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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den Tisch; sie kamen hüftenschwingend angewalzt und purzelten dann mit einem Plumps nach dem anderen über die Kante. Das Lokal war voll von den Dingern – Miniaturskelette rutschten an Rührstäbchen hinunter wie an Kletterstangen und liefen auf den Eisschalen Schlittschuh, eine ganze Skelettarmee vollführte an dem großen Kronleuchter akrobatische Kunststücke. Einige mit winzigen Cowboyhüten und -hosen ritten sogar auf den Fledermäusen, die im Schatten unter der hohen Decke flatterten. Die Ausstattung des Last Chance Saloon verriet in vielem seine virtuelle Nähe zur Terminal Row, der Straße der Todgeweihten. Die meisten seiner Stammkunden zogen jedoch den ironischen Horrortouch des Clubs den unerquicklicheren und realistischeren Erfahrungen vor, die nebenan im Angebot waren.
    »Du hast den Flugzeugabsturz mit mir mitgemacht«, gab Orlando zu bedenken.
    Fredericks schnaubte. »O ja. Einmal. Aber du hast dir den schon so oft reingezogen, daß du wahrscheinlich eine Dauerreservierung auf deinen Sitz hast.« Sein breites Simgesicht wurde kurzzeitig ausdruckslos, als ob irgendwo der wirkliche Fredericks aus dem System ausgestiegen wäre, aber das lag nur daran, daß seine Software keinen Mißmut wiederzugeben vermochte – was bedauerlich war, da Fredericks sehr dazu neigte. »Das war das Hinterletzte. Ich dachte, ich würde echt sterben – ich dachte, mein Herz würde stehenbleiben. Wie hältst du so einen Scheiß bloß aus, Gardiner?«
    »Man gewöhnt sich dran.« Doch in Wirklichkeit hatte er sich nicht daran gewöhnt. Das kam noch dazu.
    In der Gesprächspause, die eintrat, gingen die mächtigen Türen auf der einen Seite des Saloons knarrend auf, und ein empfindlich kalter Wind blies durch den Raum. Orlando stellte automatisch seinen Empfindungspegel herunter; Fredericks, der ein weniger kostspieliges Interface benutzte, merkte es nicht einmal. Ein Wesen mit rotglühenden Augen, umweht von treibenden Schneeflocken, stand drohend in der offenen Tür. Ein paar der Gäste dicht an der Tür lachten. Ein sehr femininer Sim kreischte auf.
    »Ich hab erzählt bekommen, daß sie diese Simulationen von echten Sterbenden aufnehmen«, sagte Fredericks unvermittelt. »Sie holen sie direkt von den Interfaceteilen echter Menschen runter.«
    »Nee.« Orlando schüttelte den Kopf. »Sie sind einfach gutes Gear. Gut geschrieben.« Er sah zu, wie das rotäugige Ungetüm die kreischende Frau packte und in das nächtliche Schneetreiben hinausschleifte. Knarrend gingen die Türen wieder zu. »Was denn, sie setzen einfach jemand mit einem gigateuren, Spitzenklasse teleneuronalen Recorder in ein Flugzeug nach dem andern, und das Ding läuft gerade mit, wenn eines einen Manila baut? Die Chancen sind eins zu zig Zillionen, Frederico, und die Aufzeichnung würdest du nicht im nächsten Netshop kriegen. Ganz zu schweigen davon, daß du so eine Erfahrung nicht einfach aufnehmen und eins zu eins abspielen kannst. Ich hab mich da sachkundig gemacht, Mann. Echtaufnahmen sind bloß ein heilloses Kuddelmuddel, ein richtiger Monstermix. Du kannst die Erfahrung, die jemand gemacht hat, nicht durch ein anderes Gehirn laufen lassen. Das funktioniert nicht.«
    »Ach ja?« Fredericks klang nicht völlig überzeugt, aber er besaß nicht Orlandos obsessives Interesse an VR und am Netz und widersprach ihm normalerweise in solchen Dingen nicht.
    »Aber egal, darüber wollte ich gar nicht mit dir reden.« Orlando lehnte sich zurück. »Es gibt wichtigere Dinge, mit denen wir uns befassen müssen, und wir sollten privat darüber reden. Dieser Laden ist sowieso tot. Komm, wir gehen in mein ElCot.«
    »Genau. Dieser Laden ist tot.« Mit Kichern beobachtete Fredericks, wie zwei fingerlange Skelette über den Tisch schlidderten und mit einem Kronkorken Frisbee spielten.
    Orlando runzelte die Stirn. »Das hab ich nicht gemeint.«
     
    Orlandos elektronisches Cottage lag in der Parc Corner, einem nach bohèmisierender Kaufkraft riechenden Teil des Inneren Distrikts, der hauptsächlich von bessergestellten Studenten bewohnt war. Sein Heimathafen in der virtuellen Welt war nachgerade das perfekte Klischee eines Jungenzimmers, eines Zimmers, wie Orlando es gern bei sich zuhause gehabt hätte, aber nicht haben konnte. Ein Bildschirm über die ganze Wand zeigte nonstop und live Videobilder vom Fortgang des MBC-Projekts, eine ungeheure Wüste aus wirbelndem Orangerot. Orlandos Besucher mußten sehr genau hinschauen, um die Heerscharen kleiner

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