Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
nicht die Traumfigur männlicher Phantasien, die sie an einem solchen Ort erwartet hätte; ihre langen, schlanken Beine, ihr zarter Brustkorb und ihre kleinen Brüste mit den malvenfarbenen Spitzen ließen sie wenig älter als ein postpubertäres Mädchen erscheinen.
Schließlich hob das Mädchen die dunklen Augen und blickte ins Publikum. Ihr Ausdruck war eine Mischung aus Anklage und Angst, aber darunter saß noch etwas anderes, etwas wie Abscheu, fast eine Herausforderung. Jemand schrie ihr etwas in einer Sprache zu, die Renie nicht verstand. Dicht dahinter lachte ein anderer Kunde schallend. Ohne Anzeichen körperlicher Anstrengung packten die vermummten Gestalten die vier Extremitäten des Mädchens und hoben sie hoch. Langgestreckt und blaß schimmernd schwebte sie zwischen ihnen, ein Stück Reinheit, das befleckt oder verformt werden mußte. Die Musik sank zu einem leisen, gespannten Summen ab.
Eine der dunklen Gestalten verdrehte dem Mädchen den Arm. Sie krümmte sich, so daß unter der durchscheinenden Haut plötzlich matte dunkle Adern und straff gezogene Sehnen hervortraten, aber gab keinen Laut von sich. Der Arm wurde weiter verdreht und gezerrt. Etwas riß mit einem gräßlichen Geräusch, und das Mädchen schrie schließlich doch, ein ersticktes, langgezogenes Schluchzen. Renie krampfte sich der Magen zusammen, und sie wandte sich ab.
Es ist alles künstlich, sagte sie sich. Nicht wirklich. Nicht wirklich.
Gestalten drängelten sich auf beiden Seiten nach vorn und reckten die Hälse, um besser sehen zu können. Die schreienden Stimmen waren bereits heiser. Renie spürte geradezu so etwas wie eine kollektive Finsternis von den Zuschauern ausgehen, als ob sich der Raum mit giftigem Rauch füllte. Noch mehr Dinge ereigneten sich auf der Bühne, mehr Bewegungen, mehr keuchende Schreie. Sie mochte nicht hinschauen. Die Brüder aus Madras rieben sich ihre imposant bemuskelten Schenkel. Der neben Renie sitzende Strimbello beobachtete das Geschehen mit seinem kleinen erfrorenen Lächeln.
Lange Minuten ging das so. Renie starrte auf den Boden und kämpfte gegen den Drang an, zu schreien und wegzulaufen. Diese Leute waren Tiere – nein, schlimmer als Tiere, denn welches wilde Geschöpf hätte sich etwas derart Scheußliches ausdenken können? Höchste Zeit, sich !Xabbu zu schnappen und zu verschwinden. Damit mußte ihr Täuschungsmanöver noch nicht unbedingt auffliegen – selbst an einem derart widerlichen Ort konnten doch nicht alle Besucher solche Sachen sehen wollen. Sie machten Anstalten aufzustehen, aber Strimbellos breite Hand legte sich schwer auf ihr Bein und hielt sie fest.
»Du solltest nicht gehen.« Sein Knurren schien sich tief in ihre Gehörgänge zu bohren. »Schau hin, dann wirst du zuhause viel zu erzählen haben.« Er faßte ihr mit der anderen Hand unters Kinn und drehte es zur Bühne hin.
Die weißen Gliedmaßen des Mädchens waren in mehrere unmögliche Winkel verdreht worden. Ein Bein war ekelerregend lang gezogen worden, wie ein Stück Toffee. Die Menge raste jetzt, so daß die Schreie des Mädchens nicht mehr zu hören waren, aber ihr Kopf flog spastisch hin und her, und ihr Mund war weit aufgerissen.
Eine der vermummten Gestalten zog etwas Langes, Scharfes und Funkelndes hervor. Das Lärmen der Zuschauer änderte den Ton. Es klang jetzt nach einer Hundemeute, die ein erschöpftes Wild in die Enge getrieben hatte und mordlustig kläffte.
Renie versuchte, sich von Strimbellos eisernem Griff loszumachen. Etwas Feuchtes und Glänzendes flog in hohem Bogen über sie hinweg. Jemand hinter ihr fing es auf und hielt es an sein ausdrucksloses Simgesicht. Er schmierte es sich über die Wangen wie zur rituellen Bemalung und stopfte es sich dann in seinen Idiotenmund. Renie kam erneut der Magen hoch, und sie stieß sauer auf. Sie versuchte wegzuschauen, aber rundherum warfen die Gäste die Hände in die Luft und grapschten nach weiteren Stücken, die von der Bühne geflogen kamen. Zu ihrem Entsetzen hörte sie das Kreischen des Mädchens noch über die bellende Menge hinweg.
Sie hielt das nicht länger aus – sie würde durchdrehen, wenn sie hierblieb. Wenn ein virtuelles Objekt brennen könnte, dann gehörte dieser Club niedergebrannt bis auf sein finsteres Fundament. Sie machte hektische Handbewegungen in !Xabbus Richtung, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
Der kleine Mann war fort. Der Platz hinter den Pavamanas, wo er gesessen hatte, war leer.
»Mein Freund!« Sie
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