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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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eine lange gläserne Schlange. Statt dessen nickst du. Herrje, du bist doch nicht blöde. Du verstehst die Gesetze, und wie sie angewandt werden. Wenn nicht der eine, dann wäre es der andere gewesen. Sie machen diese Gesetze, damit Leute wie du nicht an das rankommen, was Leute wie sie besitzen. Also nickst du, um so zu sagen, was deine trockene Zunge und dein zugeschnürter Hals nicht sagen können: Ich weiß, warum ihr mich tot haben wollt. Ich brauche keine weiteren Erklärungen.
    Der Mann im grauen Anzug lächelt, ein harter, krummer Strich, als würde er den Blick in deinen Augen erkennen. Er nickt dem Arzt zu, einmal nur, dann klemmt er sich seine Aktenmappe unter den Arm und begibt sich zur Tür. Hinter der Wölbung von Jankels blauer Hose entschwindet er deinem Blick.
    Du bist soeben dem Todesengel begegnet. Er war ein Fremder. Er ist immer ein Fremder.
    Jankel drückt kurz deinen Arm, was sagen will, daß der Arzt den zweiten Schlauch aufgedreht hat, aber du blickst nicht auf, um dem Wärter ins Auge zu schauen. Du willst nicht, daß das letzte, was du auf Erden siehst, er ist. Er ist niemand – einfach ein Mann, der deinen Käfig bewacht hat. Vielleicht ein ganz anständiger Kerl für einen Wächter in einem Menschenzoo, aber mehr auch nicht.
    Eine kurze Zeit vergeht, zähe, träge Zeit, die dennoch zu eilen scheint. Dein Blick wandert nach oben zu den Leuchtstoffröhren, und sie flimmern noch breiter als vorhin. An den Rändern gibt es kleine Farbbrechungen. Deine Augen, merkst du, füllen sich mit Tränen.
    Gleichzeitig wird der Raum wärmer. Du fühlst, wie deine Haut sich entspannt, wie deine Muskeln sich entkrampfen. Das ist gar nicht so schlecht.
    Aber du wirst nie mehr zurückkommen. Dein Herz rast. Sie stoßen dich in die Dunkelheit hinaus. Ein Passagier zuviel auf dem großen Schiff, und du hast den kurzen Strohhalm gezogen.
    Eine animalische Panik durchfährt dich, und einen Moment lang bäumst du dich gegen deine Fesseln auf, oder versuchst es wenigstens, aber das Ganze ist schon zu weit fortgeschritten. Ein Muskel in deiner Brust zuckt, mehr nicht, eine langsame Kontraktion wie im Anfangsstadium der Wehen. Wie bei der Geburt.
    Falsch, falsch, die falsche Richtung. Du kommst zum Ausgang, nicht zum Eingang…
    Die Schwärze packt dich gnadenlos, zieht dich hinab, zersetzt deinen Widerstand. Du hängst an den Fingernägeln über einem Ozean aus warmem Samt, und es wäre so leicht so leicht so leicht loszulassen … aber unter dieser ganzen Weichheit lauert etwas anderes, etwas Hartes und Endgültiges und ach so schrecklich Einsames und Verlassenes.
    Weg, beinahe weg das Licht, bloß noch ein rasch entschwindender Fleck. Weg das Licht, weg.
    Ein lautloser Schrei, ein Funke, der noch ein letztes Mal zischt, bevor ihn die kalte Dunkelheit schluckt.
    O Gott, ich will nicht…
     
    Eine halbe Stunde später zitterte er immer noch.
    »Du bist sowas von scännig, Gardiner. Eine Todesspritze – lieber Himmel! Du bist der absolute Oberscänner!«
    Orlando blickte auf, versuchte klar zu sehen. Der dunkle Saloon war voller Schatten und treibender Nebelschwaden, aber die breite Silhouette seines Freundes war ziemlich unverkennbar.
    Fredericks ließ sich auf einen der schiefen Lehnstühle sinken und las das Angebot möglicher Erfahrungen durch, das über die schwarze Tischplatte flimmerte, ein ständig wechselndes abstraktes Spinnennetz aus frostweißen Buchstaben. Er setzte eine Miene übertriebenen Abscheus auf. Das abwehrende Anspannen der Schultern ließ seinen Sim noch muskelbepackter und breiter in der Brust erscheinen als sonst. »Was ist das mit dir und diesen Grenzerfahrungstrips, Gardiner?«
    Orlando begriff nicht, was Fredericks an diesen Bodybuildersims fand. Vielleicht war er im RL ein schmächtiges Kerlchen. Das ließ sich nicht sagen, denn Orlando hatte seinen Freund noch nie leibhaftig gesehen, und inzwischen wäre es peinlich gewesen, auch nur danach zu fragen. Außerdem waren Imageretuschen auch Orlando nicht fremd: Der Sim, den er anhatte, war wie üblich ein hervorragend gearbeitetes Produkt, wenn auch nicht besonders gutaussehend oder körperlich imposant.
    »Die Todestrips? Sie gefallen mir einfach.« Es fiel ihm einigermaßen schwer, seine Gedanken zu sammeln, eine Nachwirkung jenes letzten Versinkens im Nichts. »Sie … interessieren mich.«
    »Aha. Na, ich find sie megamorbid.« Eine Reihe winziger Skelette, allesamt im kompletten Carmen-Miranda-Fummel, tanzten vor Fredericks über

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