Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
versuchte, sich von Strimbello loszureißen, der gleichmütig die Bühne betrachtete. »Mein Freund ist fort!«
»Macht nichts«, sagte Strimbello. »Er wird etwas finden, was ihm besser gefällt.«
»Dann ist er dumm«, sagte einer der Pavamanas glucksend und grinste wie ein Verrückter. Simuliertes Blut glänzte auf seinen Wangen wie das Rouge einer alten Kurtisane. »Sowas wie das Gelbe Zimmer gibt es nicht noch einmal.«
»Laß mich los! Ich muß ihn finden!«
Der dicke Mann wandte sich ihr mit einem breiten Grinsen zu. »Du wirst nirgendwo hingehen, mein Freund. Ich weiß genau, wer du bist. Du wirst nirgendwo hingehen.«
Der Raum schien sich zu krümmen. Seine dunklen Augen hielten sie fest, kleine Löcher, die einen Durchblick auf etwas Grauenhaftes gewährten. Ihr Herz hämmerte noch wilder als vorher im See des Leviathans. Sie wäre beinahe offline gegangen, als !Xabbu ihr wieder einfiel. Vielleicht saß er in einer ähnlichen Klemme wie vor einiger Zeit Stephen. Wenn sie aus dem System ausstieg, konnte es passieren, daß sie ihn in dem gleichen todesähnlichen Trancezustand vorfand, der sich ihres Bruders bemächtigt hatte. Er war ahnungslos, genauso ahnungslos wie Stephen. Sie konnte ihn nicht im Stich lassen.
»Laß mich los, du Schwein!« schrie sie. Strimbellos Griff gab nicht nach. Statt dessen zog er sie zu sich heran auf seinen breiten Schoß.
»Genieße die Vorführung, werter Herr«, sagte er. »Und dann wirst du noch mehr zu sehen bekommen – noch viel mehr.«
Die Menge brüllte so laut, daß der Lärmpegel ihr fast das Trommelfell sprengte, aber der Befehl zum Leiserstellen wollte Renie nicht einfallen. Irgendwie schaffte es der dicke Mann, ihre ganze nüchterne Urteilskraft in einer Flut blinder Panik untergehen zu lassen. Sie machte eine Reihe von Gesten, die nichts bewirkten, bis sie schließlich auf einen Befehl verfiel, den sie seit ihren Häckertagen nicht mehr gebraucht hatte. Sie spreizte die Finger so weit, daß es fast weh tat, und beugte den Kopf.
Einen Augenblick lang schienen um sie herum sämtliche Vorgänge im Gelben Zimmer anzuhalten, und als sie kurz darauf wieder ansprangen, stand Renie mehrere Schritte von Strimbello entfernt allein auf der Fläche vor der Bühne. Mit einem Ausdruck leichter Überraschung auf seinem breiten Gesicht stand er auf und langte nach ihr. Renie versetzte sich unverzüglich aus dem Gelben Zimmer hinaus auf den Wandelgang.
Selbst der bodenlose Schacht sah normal aus im Vergleich dazu, was sie hinter sich gelassen hatte, aber der kleine Sim des Buschmanns war nirgends zu sehen. Strimbello mußte jeden Moment bei ihr sein.
» !Xabbu !« Sie rief seinen Namen auf dem Privatkanal, stellte ihn ganz laut und rief wieder. » !Xabbu ! Wo bist du?«
Sie erhielt keine Antwort. Der kleine Mann war weg.
Zwei
Der Traum des roten Königs
… Sonne ist verblaßt schon lang,
Stumm bald der Erinnrung Klang.
Herbst ist Sommers Untergang.
Doch ihr Geist ist mir noch nah
Unter Himmeln wunderbar,
Die kein waches Aug je sah …
… Träumend liegen miteinand’
Sie in einem Wunderland -
Sommer rinnen hin wie Sand -
Träumend treiben sie dahin
Unterm goldnen Baldachin -
Ist ein Traum des Lebens Sinn?
Lewis Carroll
Kapitel
Dornen
NETFEED/NACHRICHTEN:
Abkommen unterzeichnet, aber in Utah schwelt das Mißtrauen
(Bild: Händedruck vor dem Regierungsgebäude in Salt Lake City)
Off-Stimme: Ein labiler trilateraler Friede herrscht gegenwärtig zwischen der Regierung des Bundesstaates Utah, der Mormonenkirche und den unter dem Namen »Deseret Covenant« auftretenden militanten mormonischen Separatisten, aber einige Beobachter bezweifeln, daß er ohne ein Eingreifen der Bundesregierung Bestand haben kann.
(Bild: Präsident Anford in Rose Garden)
Unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht von Einzelstaaten und Städten hat die US-Regierung es bisher abgelehnt, sich einzumischen, weshalb von Seiten einiger Bürger Utahs Klagen laut wurden, die Regierung Anford mache sich des »Verfassungsbruchs« schuldig. Andere dagegen begrüßen die Neutralitätspolitik der Regierung.
(Bild: Deseret-Sprecher Edgar Riley bei einer Pressekonferenz)
Riley: »Keine Regierung hat das Recht, uns vorzuschreiben, was wir in Gottes Land zu tun und zu lassen haben. Hier draußen stehen Krieger, harte Männer. Wenn der Staat Utah einen Rückzieher macht, werden wir einfach das ganze öffentliche Leben hier lahmlegen.«
> Im Morgengrauen kommen sie
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