Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
beide.« Es war erstaunlich, wie ernst ein Paviangesicht blicken konnte. »Möchtest du sehen, was ich mit dem Faden mache?«
Azador, der ein paar Meter entfernt an der Wand saß, schaute kurz zu ihnen hinüber, aber seine Augen waren ausdruckslos; er schien in Gedanken versunken zu sein.
»Sicher. Bitte, zeig’s mir.«
!Xabbu verknotete den halben Schnürsenkel und zog ihn zu einem Rechteck auseinander, dann fuhr er mit den Fingern rasch zupfend hinein und hinaus, so daß seine Hände wie zwei nestbauende Vögel wirkten, bis er eine komplexe geometrische Figur zwischen ihnen aufgespannt hatte.
»Hier ist die Sonne. Kannst du sie erkennen?«
Renie war sich nicht sicher, aber sie hatte den Eindruck, daß die Raute nahe der Mitte des Musters gemeint sein mußte. »Ich glaube ja.«
»Jetzt geht die Sonne unter – es ist Abend.« !Xabbu bewegte die Finger, und die Raute sank auf die Horizontlinie und wurde immer flacher.
Renie lachte und klatschte in die Hände. »Das ist toll!«
Er schmunzelte. »Ich zeige dir noch ein Bild.« Seine Affenfinger arbeiteten flink. Renie fiel auf, wie sehr diese Bewegungen denen glichen, mit denen man über Squeezer Daten eingab. Als er stillhielt, hatte er ein völlig anderes Muster mit einem dichten Fadengeflecht in einer der oberen Ecken gebildet. »Das ist der Vogel, den man den ›Honiganzeiger‹ nennt. Kannst du ihn erkennen?«
Renie schnappte verdutzt nach Luft. »Diesen Namen hast du schon einmal gesagt.« Es kam ihr wichtig vor, aber sie brauchte lange, bevor es ihr einfiel. »Nein. Sellars war das. Als wir ihm in Mister J’s begegneten und du … ohnmächtig warst. Im Traumzustand oder so. Er sandte einen Honiganzeiger aus, um dich von irgendwo zurückzuholen.«
!Xabbu nickte bedächtig. »Er ist ein kluger Mann, dieser Sellars. Der Honiganzeiger ist für mein Volk sehr wichtig. Wir folgen ihm über große Entfernungen, bis er uns zum wilden Honig bringt. Aber er führt die Menschen nicht gern zum Honig – wir sind zu gierig. Ah, sieh mal, er hat welchen gefunden!« !Xabbu ließ seine Finger spielen, und der kleine Fleck in der Ecke huschte aufgeregt hin und her. »Er wird es seinem besten Freund erzählen, dem Honigdachs.« !Xabbu formte rasch ein neues Bild, diesmal mit einer großen Gestalt unten und der kleinen Gestalt oben. »Sie sind so enge Freunde, der Honiganzeiger und der Honigdachs, daß meine Leute sagen würden, sie schlafen unter demselben Fell. Kennst du den Honigdachs, Renie?«
»Er wird auch Ratel genannt, nicht wahr? Ich hab welche im Zoo gesehen. Dicht am Boden, Klauen zum Graben, stimmt’s?«
»Mistviecher«, sagte Azador, ohne aufzublicken. »Beißen einem die Finger ab, wenn man nicht aufpaßt.«
»Sie sind sehr tapfer«, erklärte !Xabbu mit Nachdruck. »Der Honigdachs verteidigt das, was ihm gehört, mit Zähnen und Klauen.« Er wandte sich wieder Renie zu. »Und der kleine Vogel ist sein bester Freund. Wenn die Bienen den Honig fertig haben und er in einem Baum oder in einer Felsspalte golden herabtrieft, kommt der Honiganzeiger aus dem Busch geflogen und ruft: ›Schnell, schnell, es gibt Honig! Komm schnell!‹« Während !Xabbu die Worte in seiner klickenden und schnalzenden Muttersprache wiederholte, ließ er die kleine Figur oben wieder wackeln. Die größere blieb regungslos. »Dann hört ihn sein Freund und denkt, daß es keinen süßeren Ruf gibt, und er eilt hinter dem Vogel her und pfeift dabei selbst wie ein Vogel und ruft: ›Sieh her, du Flügelwesen! Ich komme hinter dir her!‹ Das ist ganz wunderbar, wenn man im Busch mit anhört, wie ein Freund dem anderen zuruft.« !Xabbu zupfte mit seinen flinken Fingern die Fäden, und jetzt bewegte sich auch die untere Gestalt, und zusammen mit der immer winziger werdenden kleineren schrumpfte auch die größere Figur, als ob der Honigdachs hinter seinem Führer hereilte.
»Das ist wunderbar«, sagte Renie lachend. »Ich hab sie sehen können!«
»Sie sind die besten Freunde, der Honiganzeiger und der Honigdachs. Und wenn der Honigdachs schließlich zum Honig kommt, wirft er immer einen Teil für seinen Freund auf die Erde.« Er ließ den Faden zwischen seinen Finger erschlaffen. »So wie du es für mich tust, Renie. Wir sind Freunde wie diese beiden, du und ich.«
Sie fühlte einen Kloß im Hals, und einen Sekundenbruchteil lang meinte sie, sie wären nicht mehr in einer Zelle eingesperrt, sondern ständen wieder in !Xabbus künstlicher Wüste unter dem Ringmond, erschöpft und
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