Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
unsere Hände auf den Endpunkten liegen würden. Dann schlag drauf.«
»Es ist eine sehr harte Wand«, gab !Xabbu zu bedenken.
Azadors Lachen war eher ein unwirsches Knurren. »Du sollst sie nicht mit deinem Patschehändchen einreißen, Affenmann. Tu einfach, was ich sage.«
!Xabbu schob sich zwischen sie, so daß sein Kopf an Renies Bauch stieß, direkt unterhalb ihrer Brüste. Es war ihr unangenehm, doch ihr Freund zögerte nicht. Als er sich für eine Stelle entschieden hatte, schlug er mit der flachen Hand darauf.
Bevor der Knall von den harten Flächen der Zelle widerhallen konnte, war der von den Händen abgegrenzte Teil der Wand verschwunden; an allen Seiten blieben glatte weiße Schnittkanten zurück. Ohne die stützende Mauer stolperte Renie nach vorn in die nächste Zelle.
»Wie hast du das gemacht?« wollte sie wissen.
Azadors Lächeln war aufreizend selbstgefällig. »Dies ist VR, Frau Otepi – alles nur Schein. Ich weiß ganz einfach, wie man den Schein verändert. Jetzt scheint es dieser Stelle der Wand, daß sie keine Wand mehr ist.«
!Xabbu war hindurchgeschlüpft und schaute sich in der leeren Zelle um, die haargenau aussah wie die andere. »Aber was haben wir damit gewonnen? Müssen wir das mit jeder Wand wiederholen, bis wir draußen sind?«
Azadors zufriedene Miene änderte sich nicht. Er schritt zur Tür der neuen Zelle. Ein Zug am Griff, und sie glitt zur Seite und gab den Weg in den Flur frei. »Die leeren Zellen schließt keiner ab.«
Um ihre Verstimmung über den Erfolg des Mannes zu verhehlen – ihr erster Impuls war gewesen zu sagen: »Das ist gemogelt!«, was zweifellos eine sensationell dämliche Bemerkung gewesen wäre –, drückte sie sich an ihm vorbei und spähte in den Flur. Zu beiden Seiten des Gangs war nichts zu sehen als pfefferminzgrüner Beton und geschlossene Türen. Die Monotonie wurde nur von Plakaten aufgelockert, die die Vogelscheuche darstellten – eine gesunde, dynamische, streng blickende Vogelscheuche – und Aufrufe enthielten wie: »10.000 Munchkins tot – wofür? Denkt immer an Oz!« und »Smaragd braucht DICH!«
»Da draußen ist niemand – gehen wir.« Renie wandte sich zu Azador um. »Weißt du, wie man hier rauskommt?«
»Auf der Rückseite der Zellen gibt es eine Lieferrampe. Vielleicht sind dort Wachen, aber es werden weniger sein als vorn, wo die ganzen Verwaltungsbüros sind.«
»Also, auf geht’s.« Sie ging ein paar Schritte, dann schaute sie !Xabbu an. »Was ist los?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich höre etwas … rieche etwas. Ich bin nicht sicher.«
Ein dumpfes Bumm durchbrach die Stille, aber so leise, daß es fast nicht zu hören war: Jemand konnte ein paar Zimmer weiter ein Buch auf einen Tisch fallen gelassen haben. Das Geräusch wiederholte sich ein paarmal, dann kehrte wieder Stille ein.
»Na, was es auch sein mag, es ist jedenfalls weit weg«, erklärte Renie. »Wir warten lieber nicht ab, bis es hier ist.«
Nicht nur der Gang vor ihrer Zelle, sondern alle Gänge waren leer. Das Geräusch ihrer eilenden Schritte – von ihr und Azador, da !Xabbus Füße so gut wie lautlos auftraten – hallte beim Laufen unheimlich von den langen Wänden wider und machte Renie beklommen. »Wo sind alle hin?«
»Ich hab dir ja gesagt, hier ist alles am Auseinanderfallen«, erwiderte Azador. »Der Krieg geht schon seit Jahren – die Vogelscheuche hat nur noch ein Häuflein Getreue übrig. Was meinst du, warum wir die einzigen Gefangenen waren? Die andern wurden freigelassen und dann zum Kämpfen in den Wald oder ins Werk geschickt.«
Renie wollte nicht einmal wissen, was »das Werk« war. Erst Atascos Reich, dann die Zerstörung des Stocks, jetzt dies. Würden diese Simwelten einfach zu virtuellem Staub zerbröseln wie das Veldgras in !Xabbus Geschichte? Oder würde etwas noch Gruseligeres an ihre Stelle treten?
»Macht langsam«, sagte !Xabbu . »Ich höre etwas. Und ich fühle etwas – es pocht in meiner Brust. Irgend etwas stimmt hier nicht.«
»Was zum Teufel soll das nun schon wieder bedeuten?« knurrte Azador. »Wir sind fast am Ladeplatz. Wir können unmöglich einfach hier stehenbleiben.«
»Du solltest auf ihn hören«, meinte Renie. »Er weiß, wovon er redet.«
Etwas vorsichtiger bogen sie um eine Ecke und blickten auf einen Treffpunkt mehrerer Gänge. In der Mitte des offenen Bereichs lag ein großer Mann mit einem langen grünen Bart und einer zerschmetterten grünen Brille. Neben sich hatte er ein antiquiertes Gewehr.
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