Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
glücklich vom Tanzen.
Sie mußte schlucken, bevor sie ein Wort herausbrachte. »Wir sind Freunde, !Xabbu . Ja, das sind wir.«
Das Schweigen wurde von Azador gebrochen, der sich vernehmlich räusperte. Als sie sich nach ihm umdrehten, sah er mit gespielter Verwunderung auf. »Nein, beachtet mich gar nicht«, sagte er. »Macht ruhig weiter.«
!Xabbu wandte sich wieder Renie zu, und sein Mund verzog sich zu einem schüchternen Lächeln, das seine Pavianschnauze kräuselte. »Ich habe dich gelangweilt.«
»Überhaupt nicht. Ich liebe deine Geschichten.« Sie wußte nicht, was sie sonst sagen sollte. Es gab mit !Xabbu immer diese seltsamen Schwellen, und sie hatte keine Ahnung, was dahinter liegen mochte – eine tiefere und geschwisterlichere Freundschaft, als sie sich vorstellen konnte? Richtige Liebe? Zeitweise hatte sie das Gefühl, daß es kein menschliches Vorbild für ihr Verhältnis gab. »Erzählst du mir bitte noch eine Geschichte? Wenn es dir nichts ausmacht.« Sie schaute zu Azador hinüber. »Falls wir noch genug Zeit haben.«
Ihr Zellengenosse, der sein leises Pfeifen wieder aufgenommen hatte, gab mit einer vagen Handbewegung zu verstehen, daß sie sich die Zeit vertreiben konnten, wie es ihnen paßte.
»Ich werde dir eine andere Geschichte mit dem Fadenspiel erzählen«, erklärte !Xabbu . »Wir nehmen es manchmal, um Kindern Geschichten beizubringen.« Er schaute verlegen auf. »Ich will damit nicht sagen, daß ich dich für ein Kind halte, Renie …« Er betrachtete prüfend ihr Gesicht und war beruhigt. »Diese Geschichte handelt davon, wie der Hase seine gespaltene Lippe bekam. Sie handelt auch von Großvater Mantis …«
»Darf ich dir eine Frage stellen, bevor du anfängst? Mantis – Großvater Mantis –, ist er ein Insekt? Oder ein alter Mann?«
Ihr Freund lachte glucksend. »Er ist natürlich ein Insekt. Aber er ist auch ein alter Mann, der älteste seiner Familie und der älteste der ersten Menschen. Erinnere dich, daß ganz am Anfang alle Tiere Menschen waren.«
Renie meinte, es genauer wissen zu müssen. »Heißt das, er ist klein? Oder groß?« Sie mußte unwillkürlich an das schreckliche Ungeheuer mit den messerscharfen Vorderbeinen denken, das sie im Stock verfolgt hatte. Nach dem Blick zu urteilen, der über sein langes Gesicht zog, erinnerte !Xabbu sich auch daran.
»Großvater Mantis reitet zwischen den Hörnern der Elenantilope, er ist also sehr klein. Aber er ist von allen ersten Menschen der älteste und der klügste, der Großvater des Urgeschlechts, er ist also auch sehr groß.«
»Aha.« Sie betrachtete seine Miene, aber konnte keinen Spott entdecken. »Dann bin ich jetzt wohl für die Geschichte bereit.«
!Xabbu nickte. Er spreizte hurtig seine Finger und ließ sie spielen, bis ein weiteres vieleckiges Muster entstanden war. »In den Anfangstagen war Großvater Mantis einmal so krank, daß er fast meinte, er müsse sterben. Er hatte Biltong gegessen – das ist getrocknetes Fleisch –, das er seinem eigenen Sohn Kwammanga, dem Regenbogen, gestohlen hatte, und als Kwammanga entdeckte, daß es fort war, sprach er: ›Dieses Biltong soll im Magen desjenigen, der es mir gestohlen hat, wieder lebendig werden.‹ Er wußte nicht, daß es sein eigener Vater gewesen war.
Und so wurde das Biltong im Magen von Großvater Mantis wieder lebendig und bereitete ihm schreckliche Schmerzen.«
!Xabbus Finger krümmten sich, und das Bild bewegte sich. Eine Gestalt nahe der Mitte wackelte hin und her, so daß Renie den sich vor Qual herumwälzenden Großvater Mantis beinahe richtig sehen konnte.
»Er ging zu seiner Frau, der Klippschlieferin, und erzählte ihr, er fühle sich sehr krank. Sie sagte ihm, er solle in den Busch gehen und dort Wasser finden und trinken, das würde die Schmerzen lindern. Stöhnend zog er los.
Es gab kein Wasser in der Nähe, und der Mantis ging viele Tage, bis er schließlich zu den Tsodilo Hills kam, und hoch oben in diesen Bergen fand er das Wasser, das er gesucht hatte. Nachdem er ausgiebig getrunken hatte, fühlte er sich besser und beschloß, erst einmal eine Weile auszuruhen, bevor er sich auf den Heimweg machte.«
Die Pavianhände brachten eine Reihe von Formen hervor, und Renie sah die Berge aufragen und das Wasser schimmern. Ein Stück weiter weg hatte Azador zu pfeifen aufgehört und schien zu lauschen.
»Aber daheim in Großvater Mantis’ Kraal hatten alle Angst, weil er nicht zurückgekehrt war, und der Gedanke, er könnte gestorben sein
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