Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
Er war offensichtlich tot: Teile, die eigentlich in ihn hinein gehörten, waren auf den Fußboden gequollen.
Renie unterdrückte den Drang, sich zu übergeben. Warum hatten die Leute in dieser Simulation Innereien, in der Insektenwelt aber nicht?
Azador machten einen großen Bogen um die Leiche. »Die Laderampe ist bloß noch hundert Meter weiter«, flüsterte er und deutete in die Richtung, wo der breite Gang scharf abknickte. »Wir können …«
Ein Schmerzensschrei gellte so markerschütternd durch den Korridor, daß Renie die Knie weich wurden. Obwohl selbst Azador sichtlich betroffen war, näherten sich die drei vorsichtig dem abgehenden Flur und lugten um die Ecke.
Auf der breiten Laderampe am Ende des Ganges versuchten noch etliche andere Männer mit grünen Bärten und Brillen todesmutig, eine Armee von Tiktaks in Schach zu halten. Die Grimbärte wurden in ihrem Kampf von noch absonderlicheren Wesen unterstützt – dürren Männern mit Rädern statt Händen und Füßen, einem Teddybären mit einem Spielzeuggewehr, anderen Soldaten, die ganz aus Papier zu bestehen schienen –, doch die Verteidiger waren an Feuerkraft deutlich unterlegen, und mehrere Dutzend von ihnen waren schon zerstört worden. Nur einer der Tiktaks war zu Boden gegangen, und noch zwei oder drei andere taumelten mit herausgesprengtem Innern im Kreis, aber die grünbärtigen Soldaten schienen ihre Munition verschossen zu haben und benutzten ihre langen Gewehre jetzt nur noch als Keulen. Im sicheren Vorgefühl des bevorstehenden Sieges drangen die summenden Tiktaks heftiger auf die Verteidiger ein und umschwärmten sie wie Fliegen ein sterbendes Tier.
»Verdammt!« Renie war beinahe so erbittert wie erschrocken. »Spiele! Diese Leute und ihre beschissenen Kriegsspiele!«
»Es wird kein Spiel sein, wenn diese Dinger uns erwischen«, zischte Azador. »Los, zurück. Wir gehen woanders raus.«
Als sie wieder zu der Stelle kamen, wo die Gänge zusammentrafen und wo immer noch die Leiche eines Verteidigers lag, auf die sie gestoßen waren, zog !Xabbu Renie an der Hand. »Warum ist dieser Tote hier, wenn der Kampf noch am Eingang tobt?«
Renie brauchte einen Moment, bis sie verstand, was er meinte, und bis dahin hatten sie den grünbärtigen Leichnam schon hinter sich gelassen. Ihr Zellengenosse war rechts abgebogen und sprintete den Korridor entlang.
»Azador?« rief sie, aber er war bereits stehengeblieben.
Zwei weitere Leichen lagen vor der nächsten Ecke an der Wand, zwei Körper in drei Teilen, da die obere Hälfte des einen Soldaten mit Gewalt von der unteren getrennt worden war. Daneben befanden sich die zermatschten Überreste eines der fliegenden Affen. Lautes Geschnatter tönte aus dem Seitenkorridor, wo noch mehr Affen vor Schmerz und Entsetzen schrien.
»Wir brauchen nicht den Weg zu gehen«, sagte Azador zu Renies Erleichterung. »Mir ist eine andere Strecke eingefallen.« Er lief wieder los und reagierte nicht einmal, als ein sehr menschlicher, sehr weiblicher Schrei durch den Gang scholl.
»Emily…?« Renie stutzte. »Ich glaube, das ist unsere Freundin!« schrie sie dem davoneilenden Azador nach.
Er drehte sich nicht um und lief nicht langsamer, obwohl sie ihn laut verfluchte. !Xabbu sprang bereits den Gang hinunter auf Emilys Stimme zu. Renie eilte hinterher.
Kaum hatten sie die nächste Kampfszene erblickt, die ihnen zwar inzwischen geläufig war, aber die dennoch nicht minder bizarr wirkte – fliegende Affen und mechanische Männer in tödlichem Streit –, da riß sich Emilys schlanke Gestalt aus dem Knäuel los und kam auf sie zugerannt. Renie packte die Vorbeieilende und wäre beinahe umgeworfen worden. Das Mädchen wehrte sich wie eine am Schwanz festgehaltene Katze, bis Renie die Arme um sie schlang und zudrückte, so fest sie konnte.
»Ich bin’s, Emily, ich bin’s, wir wollen dir helfen«, rief sie immer wieder, bis das Mädchen schließlich den Widerstand aufgab und hinguckte, wer sie nun schon wieder gefangen hatte. Ihre vor Panik weit aufgerissenen Augen wurden noch größer.
»Ihr! Die Fremden!«
Bevor Renie etwas entgegnen konnte, flog ein Affe durch den Korridor an ihnen vorbei, aber nicht aus eigener Kraft. Er klatschte gegen eine Wand und plumpste wie ein Sack zu Boden.
»Wir müssen los«, sagte Renie. »Komm!« Sie faßte eine Hand des Mädchens und !Xabbu die andere, und gemeinsam flohen sie vor den scheußlichen Geräuschen, mit denen die summenden mechanischen Männer die Affen in ihren
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