Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
Klauen zerquetschten. Azador war nirgends zu sehen, aber sie schlugen die Richtung ein, in der er verschwunden war. Als ob sie nicht gerade eben noch von Tiktaks angegriffen worden wäre, plapperte Emily fröhlich los.
»… Ich hätte nicht gedacht, daß ihr noch mal rauskommt – ehrlich gesagt, hätte ich nicht gedacht, daß ich noch mal rauskomme. Da war dieser Apparat, und der König hat damit lauter so komische Sachen mit mir gemacht, schlimmer als alles, was die Medizinhenrys immer machen, da ist mir ganz kribbelig geworden vor Gänsehaut, und wißt ihr was?«
Renie tat ihr Bestes, sie zu ignorieren. »Hörst du was?« fragte sie !Xabbu . »Sind noch mehr von diesen Automaten vor uns?«
Er zuckte mit seinen schmalen Schultern und zog Emily an der Hand, um sie zu bewegen, schneller zu laufen.
»Wißt ihr, was er zu mir gesagt hat?« fuhr Emily fort. »So eine Überraschung aber auch! Ich dachte, o weh, jetzt geht’s mir schlecht, gelt, und sie schicken mich ins Bösenlager. Da kommt man hin, wenn sie einen im Lebensmittelschuppen beim Stehlen erwischen, wie diese andere Emily, die ich kenne, und sie mußte bloß ein paar Monate hin, aber als sie zurückkam, sah sie ganz viel älter aus. Aber wißt ihr, was sie zu mir gesagt haben?«
»Emily, sei still.« Renie verlangsamte jetzt das Tempo, als sie wieder um eine Ecke bogen. Dahinter tat sich ein weiter Saal auf mit spiegelglattem Fliesenfußboden und glänzenden Metalltreppen, die zu einem Zwischengeschoß emporführten. Weitere Affenleichen lagen verstreut auf dem Boden, dazu die Körper zweier Tiktaks, die offenbar durch den Handlauf des Zwischengeschosses gestürzt waren, der an einer Stelle verbogen war wie silbernes Lakritz. Die Aufziehmänner waren unten zerborsten wie teure Uhren, die jemand aufs Pflaster geworfen hatte, aber neben einem von ihnen regte sich etwas.
Emily brabbelte unverdrossen weiter. »Er hat mir gesagt, daß ich ein kleines Baby bekomme!«
Es war Azador. Im Todeskrampf hatte einer der Tiktaks sein Bein zu fassen bekommen, und jetzt versuchte er verzweifelt, sich aus der zugeschnappten Kralle des Monstrums zu befreien. Bei ihrem Nahen blickte er auf; die Furcht in seinem Gesicht wich rasch dem Ärger.
»Schafft mir dieses Ding vom Leib«, knurrte er, doch bevor er noch mehr sagen konnte, unterbrach ihn Emily mit so einem lauten Schrei, daß Renie mit gequälter Miene zurückzuckte.
»Henry!« Emily schlidderte durch den Raum, sprang über einen der zertrümmerten Tiktaks und warf sich auf Azador. Ihr Aufprall stieß ihn so fest auf den Boden zurück, daß sein Bein mit einem Ruck aus der Klaue freikam, wobei jedoch sein Overall zerrissen wurde und er rote Striemen am Knöchel bekam. Emily fiel über ihn her wie ein übermütiger junger Hund, und er konnte sie nicht von sich wegschieben. »Henry!« quiekte sie. »Mein goldiger goldiger goldigster Henry! Mein Herzenspuddingliebster! Meine tolle Weinaxfreude!« Sie setzte sich breitbeinig auf seine Brust, während er sie nur verdattert anstarren konnte. »Rat mal«, forderte sie ihn auf, »rat mal, was der König grade zu mir gesagt hat. Du und ich – wir haben ein Baby gemacht!«
In dem hohen Raum wurde es nach dieser Mitteilung totenstill. Nach einer Weile machte der tote Tiktak ein klickendes Geräusch, die Klaue, die Azadors Knöchel festgehalten hatte, knarrte ein letztes Mal und erstarrte dann wieder.
»Das«, sagte Renie schließlich, »ist allerdings sehr merkwürdig.«
Kapitel
Käufer und Schläfer
NETFEED/NACHRICHTEN:
Experten diskutieren über Haftstrafen mit »Zeitlupeneffekt«
(Bild: Archivaufnahmen aus dem Verwahrtrakt, ein Mitarbeiter überprüft die Schubfächer)
Off-Stimme: Die UN fördern die Auseinandersetzung zwischen Menschenrechtlern und Kriminalpädagogen über die umstrittene »Zeitlupentechnik« im Strafvollzug, bei der die Stoffwechselvorgänge mit kryotherapeutischen Mitteln verlangsamt und die Gefangenen gleichzeitig unterschwelliger Beeinflussung ausgesetzt werden, so daß sie den subjektiven Eindruck haben, im Laufe einiger Monate eine zwanzigjährige Haftstrafe zu verbüßen.
(Bild: Telfer vor den UN)
ReMell Telfer von der Menschenrechtsgruppe Humanity is Watching bezeichnet dies als einen weiteren Beweis dafür, daß wir eine »menschenverarbeitende Gesellschaft« geworden sind, wie er es nennt.
Telfer: »Angeblich will man diese Gefangenen schneller in die Gesellschaft zurückführen, aber in Wirklichkeit geht es nur um
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