Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
»Machen Zangen erst richtig verrückt. Werden ganz wild, wenn riechen Gemüse.«
Orlando tat die kleine Cocktailtomate trotzdem leid. Sie hatte wie ein verlassenes Kind geschrien.
»Auf der Seite nicht können landen«, erklärte Starke Marke der Landschildkröte später, als sie mit der langsamen Strömung in der Flußmitte dahintrieben. Ein leichter Nebel lag hier über dem Fluß, so daß die Ufer fast unsichtbar und die Schränke nur zu beiden Seiten aufragende trübe Umrisse waren. »Zangen dort fressen noch lange.«
»Dafür habe ich volles Verständnis.« Die Landschildkröte war erst vor kurzem aus ihrem Panzer hervorgekommen, wohin sie sich während des Angriffs zurückgezogen hatte. »Und ich habe keinerlei Verlangen, auf der anderen Seite abgesetzt zu werden, die mir fremd ist. Vielleicht bleibe ich ein Weilchen bei euch, wenn ihr nichts dagegen habt, und dann könnt ihr mich später an Land lassen.«
Starke Marke grunzte und fing wieder an zu paddeln.
»Wir müssen hier raus, Orlando«, sagte Fredericks leise. »Hier scännt’s doch wirklich obermega. Schon schlimm genug, wenn man überhaupt getötet wird, aber von irgendwelchen Dingern aus der Besteckschublade geext zu werden …?«
Orlando lächelte matt. »Wenn wir dir helfen, deinen Zündi zu finden«, rief er dem Häuptling zu, »hilfst du uns dann, aus der Küche rauszukommen? Wir gehören nicht hierher, und wir müssen unsere Freunde finden.«
Der Häuptling drehte sich um, und in dem trüben Licht der Glühbirne hoch oben hatte sein langnasiges Gesicht einen pfiffigen Ausdruck. »Wasserhahn wieder zurück nicht gehen«, sagte er. »Müssen andere Ende von Küche raus.«
Bevor er das weiter ausführen konnte, drangen Töne übers Wasser an ihre Ohren, ein Chor piepsender Stimmchen, in denen Orlando einen Moment lang Überlebende des gräßlichen Gemüsegemetzels vermutete – nur daß dieser Chor eine komplizierte dreistimmige Weise sang.
»Sangesfroh, doch leider blind
Wir seit frühster Kindheit sind.
Trotzdem singen wir con brio
Als plärrgewaltiges Feldmaustrio.«
Eine langgestreckte zylindrische Gestalt mit drei senkrechten Figuren obendrauf tauchte aus dem Nebel auf. Bei ihrem Näherkommen stellte sich heraus, daß es drei Mäuse mit identischen dunklen Sonnenbrillen auf einer Flasche waren, die sie mit unglaublich geschickten rosa Füßchen unter sich kreisen ließen wie einen gefällten Baumstamm, ohne ein einziges Mal aus dem Gleichgewicht zu kommen. Sie hatten sich gegenseitig die Arme über die Schultern gelegt, und die Maus am einen Ende hielt einen Blechbecher in der Hand, die am anderen Ende einen weißen Stock.
»Seit unsre Mamimaus uns warf,
Sind wir auf nichts als Putzen scharf.
Ein Becher voll reicht völlig aus,
Und blitzblank wird das ganze Haus.
Drei Mäuslein sind wir, singen fein
Und machen dazu alle Sachen rein,
Und hinterher, kommt und probiert,
Ist alles auch desinfiziert!
Das sieht eine einäugige Fledermaus -
›Drei Blinde Mäuse‹ – da strahlt das Haus!«
Der quäkende Chorgesang war so perfekt und so vollkommen hirnrissig, daß Orlando am Ende des Liedes gar nicht anders konnte als applaudieren; auch die Landschildkröte klatschte. Fredericks warf ihm einen befremdeten Blick zu, aber schloß sich dann doch widerwillig an. Nur Häuptling Starke Marke verzog keine Miene. Während sie weiter die Flasche unter sich drehten, machten die drei Mäuse eine tiefe Verbeugung.
»Jetzt auch in der Familienflasche!« quiekte die Maus mit dem Stock.
Vielleicht berührte das Wort »Familie« im Häuptling einen wunden Punkt, oder möglicherweise hatte er nur höflich abgewartet, bis die Mäuse mit ihrem Lied fertig waren. Jedenfalls fragte er: »Ihr sehen böse Männer auf große Boot? Mit Zündi, mein kleine Sohn?«
»Sie können wohl schwerlich etwas gesehen haben«, meinte die Landschildkröte. »Oder wie oder was?«
»Nein, wir sehen nicht viel«, pflichtete eine der Mäuse bei.
»Doch uns kommt viel zu Ohr«, fügte eine zweite hinzu.
»Und das mit dem Knirps kommt uns recht bekannt vor.« Die dritte nickte ernst, während sie das sagte.
»Ein großes Boot fuhr hier.«
»Zwei Stunden ist’s her.«
»Unsre Schau gefiel ihnen wohl nicht so sehr.«
»Ein Baby weinte.«
»Das fanden wir traurig.«
»Und hu! – diese Männer klangen echt schaurig.«
Nach einer Pause piepste die mit dem Stock wieder los. »Sie waren auch nicht grade wohlriechend«, sagte sie in
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