Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
gehören konnte – das Möbelstück war zu groß, als daß man es im Finstern richtig erkennen konnte. Diese Seite der Küche schien dunkler zu sein als das andere Flußufer, als ob sie hier von der Glühbirne an der Decke viel weiter weg wären.
»Ihr hier bleiben«, sagte der Indianer. »Ich gehen und suchen böse Männer. Ich bald wieder da, dann machen Plan.« Nach dieser für seine Verhältnisse eher langen Rede schob er das Kanu in die Strömung, bis ihm das Wasser über seine vollkommen zylindrische Brust ging, und stieg dann lautlos und behende ein.
»Tja«, sagte die Landschildkröte, während sie ihm hinterherblickte, »ich kann nicht behaupten, sehr glücklich darüber zu sein, daß ich in diese Sache hineingeraten bin, aber ich denke mal, wir sollten das Beste daraus machen. Schade, daß wir kein Feuer anzünden können – dann wäre das Warten nicht ganz so trostlos.«
Fredericks schien etwas sagen zu wollen, doch dann schüttelte er den Kopf. Sein Freund, begriff Orlando, hatte eine Frage stellen wollen, aber dann war ihm die Vorstellung, mit einer Zeichentrickfigur zu reden, zu peinlich gewesen. Orlando lächelte. Es war komisch, jemanden so gut zu kennen und ihn doch überhaupt nicht zu kennen. Er kannte Sam Fredericks jetzt schon seit Jahren – seit sie beide in die sechste Klasse gegangen waren – und hatte trotzdem noch nie sein Gesicht gesehen.
Ihr Gesicht.
Wie immer machte ihn die Erkenntnis betroffen. Er betrachtete die vertrauten Züge von Pithlit dem Dieb – das scharfe Kinn, die großen, ausdrucksvollen Augen – und fragte sich einmal mehr, wie Fredericks wohl in Wirklichkeit aussah. War sie hübsch? Oder sah sie wie ihre üblichen Frederickssims aus, nur daß sie ein Mädchen war statt ein Junge? Und was spielte das schon für eine Rolle?
Orlando konnte nicht sagen, daß es eine Rolle spielte. Aber er konnte auch nicht sagen, daß es keine Rolle spielte.
»Ich hab Hunger«, verkündete Fredericks. »Was passiert, wenn wir hier was essen, Orlando? Klar, ich weiß, daß es uns nicht wirklich ernährt oder so. Aber wäre es ein gutes Gefühl?«
»Ich bin mir nicht sicher. Vermutlich hängt es davon ab, was uns eigentlich hier im System hält.« Er versuchte sich das einen Moment lang vorzustellen – Gehirn und Körper beide fest mit einem virtuellen Interface verschaltet –, aber er hatte Mühe, seine Gedanken zusammenzuhalten. »Ich bin zu müde, um drüber nachzudenken.«
»Vielleicht solltet ihr zwei euch schlafen legen«, bemerkte die Landschildkröte. »Ich bin gern bereit, Wache zu halten, für den Fall, daß unser Freund zurückkommt oder wir unliebsamen Besuch bekommen.«
Fredericks warf der Landschildkröte einen Blick zu, der nicht ganz frei von Mißtrauen war. »Ach ja?«
Orlando lehnte sich an den Fuß des Möbelbeines, der so breit wie ein Getreidesilo in einem der alten Western war und eine leidlich bequeme Rückenstütze abgab. »Na, komm«, sagte er zu Fredericks. »Du kannst deinen Kopf an meine Schulter legen.«
Sein Freund drehte sich um und starrte ihn an. »Was soll das denn bedeuten?«
»Nur … nur damit du’s bequem hast.«
»Ach ja? Und wenn du mich immer noch für einen Typen halten würdest, hättest du das dann auch gesagt?«
Orlando hatte darauf keine ehrliche Antwort. Er zuckte mit den Achseln. »Okay, ich bin der totale Oberwuffti. Schlepp mich vors Netzgericht Live.«
»Vielleicht sollte ich euch Jungs eine Geschichte erzählen«, sagte die Landschildkröte munter. »Das hilft einem manchmal, sich einen Weg in den Sand des Schlafs zu graben.«
»Du hast was über die Käufer gesagt.« Das hatte Orlando vorhin gefesselt, aber er wußte nicht, ob er noch die Energie hatte, einer ganzen Geschichte zuzuhören. »Glaubst du, daß sie es waren, die euch geschaffen haben? Alle … alle Personen hier in der Küche?«
Fredericks stöhnte, aber die Landschildkröte beachtete ihn gar nicht. »Die uns geschaffen haben? Liebe Güte, nein.« Sie nahm ihre Brille ab und putzte sie energisch, als ob allein schon der Gedanke sie ganz hippelig machte. »Nein, wir werden woanders geschaffen. Aber wenn die Geschichten wahr sind, dann bringen uns die Käufer von jenem anderen Ort hierher, und so verbringen wir unsere Nächte in der Küche und sehnen uns immer danach, in unsere wahre Heimat zurückzukehren.«
»Eure wahre Heimat?«
»Das Geschäft, nennen sie die meisten, allerdings habe ich einmal eine Gruppe von Gabeln und Löffeln kennengelernt, die zu
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