Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
wieder einmal normal waren und die Stunden zäh dahinschlichen. Die Erkenntnis quälte ihn nur minimal. Der Mann vor der Tür, der den Speer hält. Der irgendein Zauberdingsda auf einem Samtkissen anbringt, wenn jemand Wichtiges danach verlangt. Einer der Leute in der Menge, die »Hurra!« schreien, wenn das Abenteuer glücklich ausgeht. Ich bin schon immer dieser Mann gewesen. Hab für meine Mutter gearbeitet, bis ich erwachsen war, danach vierundzwanzig Jahre lang für die Frau Doktor. Kann sein, daß ich für den schönen Khalid dem allen entflohen wäre, wenn er mich dazu aufgefordert hätte, aber am Schluß hätte ich auch für ihn den Haushälter gespielt. Ich wäre bloß in seiner Geschichte gewesen statt in der der Frau Doktor oder meiner Mutter oder jetzt in diesem Irrsinn mit Apparaten und Schurken und diesem riesigen, leeren Bau im Berg.
Natürlich hatte die Speerträgerrolle durchaus ihre guten Seiten, und diese vielstöckige Geisterstadt genauso. Er hatte jetzt Zeit, zu lesen und zu denken. Weder für das eine noch für das andere war ihm viel Zeit geblieben, seit er damals die Stelle bei den Van Bleecks angetreten hatte. Seine ganze freie Zeit hatte er dafür geopfert, für das Wohl seiner Mutter zu sorgen, und obwohl Susan es ihm nicht übelgenommen hätte, wenn er ab und zu in einem stillen Stündchen gelesen oder Netz geguckt hätte, während sie mit ihrer Forschungsarbeit beschäftigt war, hatte ihn die bloße Tatsache ihres Vertrauens zu großen – und fast immer unbemerkten – Anstrengungen angespornt. Doch hier gab es buchstäblich nichts anderes zu tun, als die Anzeigen der V-Tanks zu beobachten und aufzupassen, daß die Flüssigkeiten rechtzeitig nachgefüllt wurden. Das war nicht schwieriger, als den teuren Wagen der Frau Doktor zu warten – der jetzt auf dem untersten Parkdeck des Wespennests stand und völlig einstauben würde, wenn er nicht alle paar Tage hinaufginge, um ihn mit einem Wischtuch zu säubern und sich über den eingedrückten Kühlergrill und die gesprungene Windschutzscheibe zu grämen.
Manchmal fragte er sich, ob er wohl noch einmal Gelegenheit bekommen würde, ihn zu fahren.
Obwohl ihm der Kerl nicht besonders sympathisch war, hätte Jeremiah sich in seiner Freizeit durchaus öfter mit Long Joseph unterhalten, aber Renies Vater (der noch nie sehr herzlich gewesen war) ging zusehends auf Distanz. Der Mann brütete stundenlang stumm vor sich hin, oder er verkroch sich in die hintersten Winkel der Basis und kam mit rotgeweinten Augen zurück. Da war Jeremiah die Pampigkeit vorher noch lieber gewesen.
Und Jeremiahs Versuche, auf ihn zuzugehen, waren alle abgeschmettert worden. Zuerst hatte er angenommen, es sei nur der Stolz des Mannes oder vielleicht sein eingefleischtes provinzielles Vorurteil gegen Homosexuelle, aber in letzter Zeit war ihm klargeworden, daß es einen Knoten in Long Joseph Sulaweyo gab, der möglicherweise ewig ungelöst bleiben würde. Dem Mann fehlten die Worte, um seinen Schmerz anders als auf die banalste Weise auszudrücken, aber vor allem schien er nicht zu verstehen, daß es eine Alternative geben konnte, wenn er nur versuchte, die Antworten in sich selbst zu finden. Es war, als ob das ganze einundzwanzigste Jahrhundert an ihm vorbeigegangen war und er emotionale Qualen ausschließlich in den primitiven Formen des vorigen Jahrhunderts begreifen konnte, nur als etwas, wogegen man wüten oder das man erdulden mußte.
Neuerdings schien der innere Aufruhr den Siedepunkt zu erreichen, denn Long Joseph wanderte mittlerweile unablässig umher und unternahm nicht nur lange Gänge durch den Stützpunkt – die Suche nach Alkohol, die Jeremiah zuerst vermutet hatte, mußte er eigentlich inzwischen aufgegeben haben –, sondern tigerte sogar auf nervtötende Weise hin und her, wenn sie im selben Raum waren, immerzu in Bewegung, immerzu am Gehen. In den letzten paar Tagen hatte Joseph zudem noch angefangen, dabei vor sich hinzusingen, die langen Zeiten des Schweigens zwischen gelegentlichen Gesprächsfragmenten mit einem stimmlosen Gemurmel auszufüllen, das für Jeremiah langsam wie ein ständiges Bohren im Hinterkopf war. Die Lieder, wenn man sie denn so nennen konnte, schienen keinen Bezug zu Long Josephs Situation zu haben. Es waren einfach alte, in einem fort wiederholte Schlager, die ohne ihre richtigen Melodien und mit bloß genuschelten oder sogar in Nonsensesilben aufgelösten Texten manchmal nur gerade eben noch zu erkennen waren – und dadurch
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