Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
keine Hilfe.
Und der Tod? Der Tod mit seinem Zylinder und seinem Hypnotiseursblick war der schlimmste Peiniger von allen. Wenn er dich nicht unvermutet von hinten packte, wenn du es irgendwie schafftest, ihm zu entgehen und stark zu werden, blieb er einfach wartend im Schatten stehen, bis die Zeit selbst dich kleingekriegt hatte. Dann, wenn du alt und schwach und wehrlos warst, schnappte er dich, dreist wie ein Wolf.
Und das konnten die Jungen in ihrer phantastischen Dummheit niemals verstehen. Für sie war der Tod nur ein Comicwolf, über den sie sich lustig machten. Sie sahen nicht, konnten nicht wissen, wie es ihnen an jenem Tag ergehen würde, an dem das Ungeheuer wirklich wurde – an dem weder Stroh noch Holz noch Ziegelmauern sie retten konnten.
Jongleur erschauerte, eine Empfindung, die sein heruntergeregeltes Nervensystem zwar meldete, aber nicht wirklich fühlte. Sein einziger Trost war, daß er seit seinem Eintritt ins Greisenalter hatte zusehen dürfen, wie drei Generationen junger Nachfahren zuletzt diese furchtbare Erkenntnis machten und dann vor ihm dahingingen, aus ihren zertrümmerten Häusern schreiend in die Nacht hinausgezerrt wurden, während er weiter von diesem grinsenden Maul verschont blieb. Gentherapie, Vitaminkuren, konzentrierte Triggerpointbestrahlung, alle ärztlichen Künste, die den Menschen zur Verfügung standen (die nicht Jongleurs nahezu unbegrenzte Mittel und Jongleurs bahnbrechende Ideen besaßen), konnten den Tod nur ein wenig hinausschieben. Einige, die Glücklicheren und Wohlhabenderen, waren kürzlich in das zweite Jahrzehnt ihres zweiten Jahrhunderts eingetreten, aber im Vergleich zu ihm waren sie immer noch Kinder. Während alle anderen erlagen, während seine eigenen Enkel und Urenkel und Ururenkel einer nach dem anderen geboren wurden, alt wurden und starben, schlug er weiterhin dem lauernden Mister Jingo ein Schnippchen.
Und wenn Gott, oder wer auch immer, es wollte, würde er das ewig tun!
Felix Jongleur stand schon länger als zwei lange Menschenleben nächtliche Schrecken aus. Ohne auf den Chronometer zu gucken, ohne eine der Informationen, die er mit kaum mehr als einem Gedanken abrufen konnte, wußte er, daß außerhalb seiner Festung die letzte Stunde vor Tagesanbruch schwer über dem Golf von Mexiko lag. Die wenigen Fischerboote, die er auf dem Lake Borgne, seinem privaten Burggraben, duldete, zogen jetzt wohl gerade die Netze ein. Polizisten in Überwachungslaboren in Baton Rouge nickten vor ihren Monitoren ein und hofften zwischendurch, daß die Wachablösung daran dachte, ihnen etwas zu essen mitzubringen. Fünfzig Kilometer westlich von Jongleurs Turm, in New Orleans, lagen ein halbes Dutzend oder mehr Touristen im Vieux Carré in der Gosse, nicht mehr im Besitz ihrer Kreditkarten, ihrer Schlüsselkarten und ihrer Selbstachtung… wenn sie Glück hatten. Einigen weniger Glücklichen konnte es passieren, daß sie mit Drogen vollgepumpt aufwachten und an einem Arm keine Hand mehr hatten, aber immerhin einen kauterisierten Stumpf, weil die Diebe keine Mordanklage am Hals haben wollten (die meisten Leihwagenfirmen hatten Handabdruckleser aufgegeben, aber ein paar hielten noch daran fest).
Und einige der in der Gosse deponierten Touristen hatten gar kein Glück und wachten nie wieder auf.
Die Nacht war beinahe um.
Felix Jongleur ärgerte sich über sich selbst. Schlimm genug, daß er immer wieder vom Schlaf überspült wurde, ohne es zu merken – er erinnerte sich nicht, daß er eingenickt war –, aber nur wegen einiger altbekannter und seit langem schon langweiliger Träume mit Herzflattern aufzuwachen wie ein verängstigtes Kind …
Er mußte etwas arbeiten, beschloß er. Das war die einzige gute Lösung, die beste Art, dem Mann mit dem hohen Zylinder ins Gesicht zu spucken.
Sein erster Impuls war, nach Abydos-Olim zurückzukehren und auf seinem bequemen Gottesthron, umgeben von seinen dienstbaren Priestern, die jüngsten Informationen durchzuschauen. Aber der Albtraum, vor allem das ungewöhnliche Nebeneinander verschiedener Elemente, hatte ihn verstört. Sein Wohnsitz erschien ihm auf einmal nicht mehr sicher, und obwohl das große Haus, das sein physischer Körper nie verließ, besser gesichert war als die meisten Militärstützpunkte, verspürte er dennoch den Drang, eine Kontrolle durchzuführen, und sei es nur, um sich zu vergewissern, daß alles war, wie es sein sollte.
Mit sieben unterirdischen Stockwerken verankert (einem über dreißig
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