Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
Meter tief hinabreichenden Fibramiczylinder, der buchstäblich in den Deltaschlamm hineingeschraubt worden war) erhob sich Jongleurs Turm außerhalb des Wassers noch einmal zehn Stockwerke hoch in die nebelige Luft über dem Lake Borgne, doch der Turm war nur ein Teil des riesigen Komplexes, der die künstliche Insel bedeckte. Die ungefähr fünfzig Quadratkilometer große Felskonstruktion beherbergte nur etwas mehr als zweitausend Personen – rein zahlenmäßig ein sehr kleiner Ort, aber einflußreicher als die meisten Staaten der Welt zusammen. Jongleur war hier kaum weniger ein Gott als in seinem virtuellen Ägypten: Mit einem subvokalisierten Wort rief er die Batterie von Videobildern auf, die ihm jeden Winkel seines Anwesens genau vor Augen führten. Überall im und am Turm und an den umliegenden Gebäuden wurden Wandbildschirme mit einemmal zu einseitigen Spionfenstern, und den Bildern überlagerte Worte und Zahlen flogen an ihm vorbei wie Funken.
Er fing außen an und arbeitete sich nach innen vor. Die nach Osten gerichteten Grenzkameras übertrugen ihm den ersten Schimmer der aufgehenden Sonne, ein rötliches Glimmen über dem Golf, noch schwächer als die orangeroten Lichter der Ölbohrinseln. Die Posten in zweien der Grenzwachtürme spielten Karten, und ein paar waren nicht voll uniformiert, aber in allen sechs Türmen waren die Wachmannschaften einsatzbereit, und Jongleur war zufrieden; er würde die Kommandanten ermahnen, strenger auf Disziplin zu achten. Die übrigen Verteidiger seines Besitzes – die menschlichen Verteidiger jedenfalls – schliefen in ihren doppelstöckigen Betten, Reihe um Reihe um Reihe. Ihre Quartiere und Exerzierplätze allein nahmen fast die Hälfte der künstlichen Insel ein, auf der der Turm stand.
Er setzte seine Inspektion im Turm selbst fort, huschte durch unzählige Zimmer und Gänge von einer Bildschirmansicht zur nächsten wie ein in Spiegeln wohnender magischer Geist. Die Büroräume waren größtenteils leer, nur ein Rumpfteam war am Platz, nahm Anfragen von Übersee entgegen und saugte Informationen aus den Netzen, mit denen die Frühschicht sich dann eingehender befassen konnte. Ein paar mit ihrer Schicht fertige Aufseher, ortsansässige Männer und Frauen, die keine Ahnung hatten, wie gründlich sie vor ihrer Anstellung überprüft worden waren, warteten auf der Strandpromenade auf das Fährboot, das sie zu ihren Quartieren auf der anderen Seite der Insel bringen sollte.
Seine leitenden Angestellten waren noch nicht erschienen, und in ihren Büros war es still und bis auf das Leuchten der elektronischen Anzeigen dunkel. Über der Chefetage fing der Wohnbereich im Turm an, reserviert hauptsächlich für hochrangige Besucher; nur wenige von diesen heißbegehrten und umkämpften Apartments waren als Dauerunterkünfte hergerichtet worden, und nur die Allerglücklichsten von Jongleurs ganzem weltweiten Imperium kamen in ihren Genuß.
Jongleurs Fernauge entdeckte den Präsidenten einer seiner größeren ukrainischen Tochtergesellschaften, der im Bademantel auf einem der Turmbalkone saß und auf den See hinunterblickte. Jongleur fragte sich, ob der Mann wegen des Jetlags schon so früh auf war, und erinnerte sich dann, daß er den Kerl zu einer Konferenz etwas später am Tag bestellt hatte. Sie würde natürlich über Bildschirm erfolgen; der ukrainische Manager, einer der reichsten und mächtigsten Männer in seinem ganzen Land, würde sich zweifellos fragen, warum er den ganzen Weg hatte auf sich nehmen müssen, wenn er seinen Arbeitgeber doch nicht persönlich zu Gesicht bekam.
Der Mann sollte seinem Schicksal danken, daß er seinen Herrn nicht von Angesicht zu Angesicht sehen mußte, dachte Jongleur. Der Ukrainer würde ein Bild von seinem Arbeitgeber als einem exzentrischen, sicherheitsbesessenen alten Mann mit nach Hause nehmen, statt die unangenehme Wahrheit zu entdecken – daß der Gründer und Leiter des Konzerns ein ungeheuerliches Ding war, zusammengehalten von medizinischen Druckbandagen, permanent eingetaucht in lebenserhaltende Flüssigkeiten. Der zum Gesprächstermin erschienene Manager würde nie darüber nachdenken müssen, daß die Augen und Ohren seines Arbeitgebers von Elektroden durchbohrt waren, die direkt an die Seh- und Hörnerven anschlossen, daß seine Haut und selbst seine Muskeln stündlich wabbeliger und weicher wurden und jeden Moment drohten, sich von den Knochen zu lösen, die dünn und schwach wie tote Zweige waren.
Jongleur hielt
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