Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
sich nicht lange bei dem nur allzu bekannten Horror seines Zustands auf. Statt dessen huschte er auf seiner körperlosen Inspektionsrunde durch die Privatwohnungen weiter hinauf in die unteren Etagen seines inneren Heiligtums, wo er einen kurzen Blick auf die Quartiere der diversen Leibwächter und Techniker warf, auf die Hardwareräume, in denen die wichtigsten Apparate standen, und auf den von drei Drucktüren und zwei Wachmannschaften abgeschirmten Raum, in dem die Tanks in ihren gepolsterten Gestellen lagen. Sein eigener Versorgungstank, eine Kapsel aus schwarzem, glänzendem Plastahl, stand wuchtig in der Mitte wie ein königlicher Sarkophag mit Tentakeln, den nach allen Seiten abgehenden Bündeln mehrfach redundanter Kabel. Drei andere Tanks standen außer seinem noch in dem weiten, kreisrunden Raum, etwas abseits die kleineren Kapseln, die Finney und Mudd gehörten, und dicht neben seinem eigenen Behälter jenes andere hochwichtige Rechteck, genauso groß und schwarz schimmernd wie seines.
Diesen anderen Tank wollte er nicht sehr lange anschauen.
Genausowenig wie er seine Inspektion fortzusetzen gedachte. Das oberste Stockwerk blieb wie immer verboten, sogar ihm, vielleicht gerade ihm. Der Herr von Lake Borgne hatte lange vor diesem Tag beschlossen, daß er in die Zimmerflucht ganz oben im Turm nie wieder einen Blick werfen wolle. Aber es war ihm auch klargewesen, daß er der Versuchung nicht hätte widerstehen können, wenn sie ihm zugänglich geblieben wäre, daß sie ihm – wie ein schmerzender Zahn einer forschenden Zunge – keine Ruhe gelassen hätte, bis er etwas unternommen hätte. Er hatte daher sein Überwachungssystem umprogrammiert und diesen Teil mit einem Code gesperrt, den er nicht besaß. Solange er seinen Sicherheitschef nicht eigens aufforderte, die Programmierung zu ändern – und gegen diese Versuchung hatte er schon tausendmal kämpfen müssen –, blieb dieser Bereich für ihn so schwarz wie die Leere zwischen den Sternen.
Überzeugt davon, daß überall sonst alles in Ordnung war, und nicht erpicht darauf, sich länger als nötig damit zu beschäftigen, was in dem vierten Tank schwamm oder wie es in der Spitze des Turms aussehen mochte, rief er seine virtuellen Reiche auf und setzte seine Inspektion dort fort, in den Welten, die er geschaffen hatte.
An der Westfront tobte nach wie vor die Schlacht von Amiens. Der Mann, dessen Gefängnis die Schützengräben gewesen waren, war jetzt fort, aber die Simulakren kämpften und starben dort genauso unbeirrt weiter, wie sie es schon vor dem Auftauchen des Gefangenen getan hatten. Wenn diese jüngste Version der Schlacht vorbei war, würden die Leichen wieder aus dem Schlamm erstehen, wie zum Hohn auf das Jüngste Gericht; dann bildeten sich die zerschmetterten Leiber neu, die Splitter flogen wieder zu mörderischen Granaten zusammen, und die Schlacht konnte von neuem beginnen.
Auf dem Mars hatte das Kriegervolk der Rax aus der Hochwüste die Zitadelle von Tuktubim angegriffen. Der Sumbar hatte einen zeitweiligen Frieden mit Hurley Brummond geschlossen, um dessen kampfstarke Legion von Tellariem zur Verteidigung der Stadt einzusetzen. Es sah nach einem Heidenspaß aus.
In Old Chicago feierte man das Ende der Prohibition mit öffentlichen Massenbesäufnissen, dieser Zyklus war also beinahe durchlaufen. Atlantis war zum x-ten Mal seinem feuchten Grab entstiegen und bereit zum nächsten Neuanfang. Hinter den Spiegeln waren die roten und weißen Figuren auf beiden Seiten des metaphorischen Schachbretts schon in die neue Runde eingetreten.
Jongleur ließ seine Welten Revue passieren, wobei er die Blickwinkel dem Zufall überließ und sie nur korrigierte, wenn die gebotene Ansicht ihm nicht die gewünschten Informationen verschaffte. In einer hatte die spanische Armada irgendwie die Stürme im Ärmelkanal überstanden, und die Spanier segelten in diesem Moment die Themse hinauf, um mit ihren überlegenen Streitkräften London zu brandschatzen; er nahm sich vor, noch einmal zurückzukehren, sich vielleicht sogar zu bekörpern, damit er diesen seltenen Ausgang unmittelbar miterleben konnte, den er beim letzten Mal verpaßt hatte.
Eine weitere Invasion Englands, diesmal nach der Marsgeschichte von H.G. Wells, näherte sich ihrem Ende. Alles schien dort bedrückend langsam abzulaufen. Er fragte sich, ob er die Simwelt wohl neu kalibrieren müsse.
Überhaupt fiel ihm beim Durchstreifen etlicher anderer Simulationen auf, daß seine virtuellen
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