Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
einmal den virtuellen Lampenschein von Abydos und seine beruhigende Wirkung gab. Einen kurzen Moment lang befand er sich tatsächlich in seinem Körper und sonst nirgendwo, aber es war zu grauenhaft, und er floh sofort zurück in sein System. Ein blindes, hilfloses Ding, eine in Mullbinden und Polyesterfilm gehüllte Nacktschnecke, die in einem dunklen Tank schwamm – es schauderte ihn bei dem Gedanken, so existieren zu müssen, wie er wirklich war. Er umgab sich mit seinen Apparaten wie mit einem Panzer.
    Als er in das System eingetaucht war, ließ der älteste Mann der Welt nicht sein maßgefertigtes Ägypten in seiner ganzen Herrlichkeit erstehen, sondern statt dessen eine viel schlichtere virtuelle Welt, die nichts als gedämpftes und ortloses blaues Licht enthielt. Jongleur badete darin, von Infraschallwellen gestreichelt, und versuchte die große Angst zu stillen, die ihn gepackt hatte.
    Die Jungen konnten das Grauen des Altseins nicht verstehen. Auf diese Weise schützte die Natur sie vor einem unnütz belastenden Wissen, genau wie die Atmosphäre rings um die Erde ein blaues Firmament erschuf, das die Menschheit davor bewahrte, der nackten Mitleidlosigkeit der Sterne wehrlos ausgesetzt zu sein. Alter bedeutete Unfähigkeit, Einschränkung, Abgeschobenwerden – und das war erst der Anfang. Weil jeder Augenblick zugleich ein Schritt war, der einen dem Nichts näher brachte, dem allzeit bereitstehenden Tod.
    Felix Jongleur hatte seine ganze Kindheit über von einer gesichtslosen, schattenhaften Figur geträumt, dem Tod, »der uns alle erwartet«, wie sein Vater ihm erklärt hatte, aber erst als seine Eltern ihn auf diese entsetzliche Schule in England geschickt hatten, hatte er endlich erfahren, wie er aussah. Als er eines Nachts eine zerfledderte Zeitung durchblätterte, die einer der Oberstufler im Schlafsaalschrank hatte liegenlassen, sah er eine Abbildung – »die Vision eines Künstlers«, stand darunter, »vom geheimnisvollen Mister Jingo« – und wußte sofort, daß dies das Gesicht der Erscheinung war, die ihn in seinen Träumen noch viel gnadenloser jagte, als selbst die grausamsten älteren Jungen ihn je durch die Säle von Cranleigh gehetzt hatten. Der Mann auf dem Bild war groß, in einen dunklen Mantel gehüllt und trug einen altmodischen hohen Zylinderhut. Aber es waren seine Augen, seine hypnotisierend starrenden Augen und sein kaltes Grinsen, woran der junge Felix ihn mit rasendem Herzen erkannte. Der Artikel, die Erläuterung, wen die unheimliche Zeichnung des Künstlers darstellte, war von Ratten weggefressen worden und somit für alle Zeit ein Geheimnis geblieben; nur das Bild hatte überlebt, aber das hatte ausgereicht. Diese Augen beobachteten Felix Jongleur seit jenem Tage. Die ganzen dahinrollenden Jahrzehnte seither war er dem Blick dieser amüsierten, seelenlosen, fürchterlichen Augen ausgesetzt gewesen.
    Sie warteten. Er – es – wartete. Wie ein seiner Beute gewisser Hai unter einem Schwimmer, den langsam die Kraft verließ, brauchte Mister Jingo gar nicht mehr zu tun.
    Jongleur kämpfte jetzt gegen die Morbidität an, die manchmal sein isoliertes Bewußtsein befiel wie ein opportunistischer Parasit. Es wäre alles leichter, wenn man nur an eine äußere Macht glauben könnte – an ein liebendes und gütiges Wesen, ein Gegengewicht zu diesem scheußlichen, gelassen abwartenden Blick. Wie die Schwestern seiner Mutter es getan hatten. Im unerschütterlichen Vertrauen auf den Himmel – in dem anscheinend alles genauso beschaffen war wie in Limoux, nur daß gutkatholische alte Jungfern dort nicht mehr unter arthritischen Gelenken und lärmenden Kindern zu leiden hatten –, hatten sie selbst noch auf dem Sterbebett innere Gewißheit ausgestrahlt. Beide waren voll ruhiger, ja freudiger Zuversicht aus dem Leben geschieden.
    Er aber wußte es besser. Er hatte die Lektion erstmals aus dem traurigen, müden Gesicht seines Vaters und dann wieder und weitaus brutaler im Dschungel der englischen Privatschule gelernt. Jenseits des Firmaments gab es keinen Himmel, nur Schwärze und endlosen Raum. Jenseits der eigenen Person gab es nichts und niemanden, worauf man vertrauen, worauf man hoffen konnte. Finsternis erwartete einen. Sie ergriff dich, wann sie wollte, und niemand rührte einen Finger zu deiner Rettung. Du konntest schreien, bis dir fast das Herz zersprang, und irgend jemand hielt dir lediglich ein Kissen vors Gesicht, um deine Schreie zu ersticken. Der Schmerz hielt an. Es gab

Weitere Kostenlose Bücher