Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
immer noch nicht sehen, nur einen dicht hinter seiner Schulter stehenden Schatten. Er dachte aufgeregt an alle Sachen, die er theoretisch tun konnte, an alle Netzfilmhelden, die er je gesehen hatte, wie sie dem Schurken den Revolver aus der Hand traten, den Angreifer mit einem Kung-fu-Hieb kampfunfähig machten; einen Augenblick lang dachte er sogar daran, laut schreiend loszurennen und zu beten, daß der erste Schuß danebenging. Aber er wußte, daß er nichts von alledem tun würde. Der Druck an seinem Rückgrat war wie die Nase eines kalten, alten Tieres, das seine Beute beschnüffelte. Es hatte ihn erwischt, und es würde ihn umbringen. Ein Mann konnte nicht schneller sein als der Tod, oder?
Die Wagentür war vor ihm. Er ließ sich hinunterdrücken und hineinschieben. Jemand zog ihm einen Sack über den Kopf.
Meine Kinder ham es nich verdient, so einen Dummkopf zum Vater zu haben, dachte er, als das Auto mit einem Ruck anfuhr. Eine Sekunde später verwandelte sich der Zorn in Entsetzen, ihm wurde plötzlich übel, und er hatte das sichere Gefühl, in dem Sack an seinem eigenen Erbrochenen zu ersticken. Verdammt noch mal, sieh sich einer diesen Blödmann an! jammerte er innerlich. Meine armen Kinder! Ich hab sie beide umgebracht.
> Renie erhob sich langsam, und dabei wäre es ihr beinahe gleich wieder hochgekommen. Als sie sich in der Insektenwelt übergeben hatte, war nichts davon zu sehen gewesen, und daher hätte es interessant oder sogar lehrreich sein können, sich zu überlegen, weshalb die Kansassimulation ihr Erbrochenes als einen Schwall klarer Flüssigkeit dargestellt hatte. Renie verspürte jedoch kein besonderes Bedürfnis, über das Erbrechen als solches nachzudenken. Die Erinnerung an das, was die Übelkeit eigentlich ausgelöst hatte, diese armen verstümmelten Kreaturen, war schon ekelerregend genug.
»Was läuft hier bloß ab?« stöhnte sie und wischte sich das Kinn. »Sind diese Leute vollkommen wahnsinnig? Mein Gott, und ich dachte, das Gelbe Zimmer wär schlimm! Sind das alles übergeschnappte Sadisten?«
Azador ließ den Motor an, und der Schlepper tuckerte wieder den Fluß hinunter. »Das waren bloß Reps.«
»Das mußte ja kommen von dir!« Nur das erschlagende Gefühl von Schwäche und Verzweiflung hielt sie davon ab, gleich den nächsten Streit vom Zaun zu brechen.
»Ich verstehe, was Renie meint.« Mit einer Balance, die selbst bei der sanften Flußströmung beeindruckend war, stand !Xabbu aufrecht auf der Reling des Schiffes. »Gibt es wirklich so viele … wie war das Wort, Renie? So viele sadistische Personen, die hier die Herren sind?«
»Es sind reiche Dreckskerle«, sagte Azador. »Sie machen, was sie wollen.«
»Es ist kaum zu glauben, daß es sowas gibt, sowas… Widerliches.« Renie hatte ein paarmal tief durchgeatmet und fühlte sich langsam wieder halbwegs normal. »Wer will mit sowas leben? Wer will sowas machen? Der Mann hinter der Vogelscheuche mag ja ein Dreckskerl gewesen sein, aber er hat eigentlich keinen so scheußlichen Eindruck gemacht. Na ja, ich vermute, wenn das alles für ihn bloß ein Spiel war…«
»Die Vogelscheuche hat nichts damit zu tun«, erklärte Azador entschieden. »Der Mann hat die Zügel hier schon vor langem verloren. Was ihr gesehen habt, diese zerrissenen und wie Puppen wieder zusammengestückelten Replikanten, das war das Werk der Zwillinge.«
»Zwillinge? Was für Zwillinge?« Renie bemühte sich, höflich zu klingen – sie hatte sich bei Azador schon zu viele Fehler erlaubt.
»Das sind zwei Männer, die man an vielen Orten in diesem Netzwerk antrifft. Vielleicht sind sie Herren oder Wachhunde der Herren. Aber sie ziehen in vielen Simulationen herum, und was sie anfassen, wird zu Scheiße.« Er deutete auf den Dschungel, der immer mehr Ähnlichkeit mit der würgenden Enge des Werks bekam, außer daß hier Bäume und Lianen die chaotischen Industrieanlagen vertraten. »Ich habe sie erlebt und das, was sie machen. Wenn sie welche von uns Fahrenden erwischen, schmeißen sie uns nicht einfach aus dem Netzwerk raus. Wenn sie können, behalten sie uns an der Strippe und foltern uns dann.« Er spuckte über die Seite. »Ich weiß nicht, wer sie in Wirklichkeit sind, aber sie sind Dämonen.«
»Und sie sind … Zwillinge?« Renie war fasziniert. Wieder war eine der Türen von Anderland aufgegangen.
Azador verdrehte die Augen. »Das ist ein Spitzname, den sie bekommen haben, weil sie immer zusammen auftreten. Und weil der eine
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