Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
dick und der andere dünn ist, ganz gleich wohin sie gehen oder wen sie darstellen. Aber sie sind die Zwillinge, und man erkennt sie stets.«
»Du weißt nicht, ob sie richtige Menschen sind oder nicht?« Anscheinend, dachte Renie, hatte Azador noch gar nicht gemerkt, daß er tatsächlich Auskünfte gab – zum zweitenmal an diesem Tag! Wahrscheinlich blieb ihr nicht viel Zeit, Sachen aus ihm herauszuholen. »Aber wie sollten sie, wenn sie sich in mehr als einer Simwelt aufhalten?«
Der Zigeuner schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß sie an vielen Orten sind und daß sie immer und überall Schweine sind. Hier sind sie zum Blechmann und zum Löwen geworden.«
Also einige der Eigentümer dieses Universums, dachte Renie, waren Leute wie Kunohara, die sich mit ihrem Terrain zufrieden gaben. Aber andere blieben nicht in ihren eigenen Simulationen und verwüsteten sogar die Domänen ihrer Nachbarn. Lagen sie miteinander im Krieg, diese Gralsbruderschaftler? Das würde den Reichen ähnlich sehen, daß sie sich auch dann gegenseitig zu verdrängen suchten, wenn im Prinzip genug Platz für alle da war. Renie konnte das eigentlich nur recht sein, auch wenn sie mit einem Feind, dem alles gehörte, kein leichteres Spiel hätte als mit vielen Feinden. Und außerdem wären !Xabbu und sie weiterhin unbewaffnete Fußgänger inmitten eines Kriegsgeschehens.
»Kannst du uns sonst noch etwas über diese Zwillinge sagen oder über die andern, denen dieses Netzwerk gehört?« fragte sie.
Azador zuckte mit den Achseln. »Es ist zu heiß, um zu reden, und ich bin es leid, an diese Leute zu denken. Ich bin ein Roma – wir gehen, wohin wir wollen, es ist uns egal, wessen Land wir durchqueren.« Mit einer Beugung, die seine Rückenmuskeln schön zur Geltung brachte, griff er in den zu seinen Füßen liegenden Mantel und wühlte in der Tasche nach einer Zigarette.
Er hatte recht, was die Hitze betraf – die Sonne stand voll im Zenit, und die Bäume warfen keinen Schatten mehr auf den Fluß. Renie sorgte sich kurz um Emily, die noch in der fensterlosen Kajüte schlief, dann verscheuchte sie den Gedanken. Das Mädchen war doch ein Replikant, oder? Und dies war schließlich die Simulation, in der sie zuhause war. Vielleicht hatte Azador recht, vielleicht nahm sie diese Automaten, diese Codekonstrukte, wirklich zu ernst.
Der Gedanke zog einen anderen nach sich, den sie vergessen hatte oder von dem sie abgelenkt worden war. »Azador, wieso bist du so sicher, daß Emily ein Rep ist?«
Er blickte verwundert, aber tat so, als hätte er nicht verstanden. »Was?«
»Ich hab dich das schon mal gefragt, aber du hast mir nicht geantwortet. Du meintest, es sei egal, was du machst, sie sei sowieso ein Rep. Woher weißt du das?«
»Was spielt das für eine Rolle?« knurrte er. Seine verächtliche Art war nicht ganz überzeugend. Renie war sich zum erstenmal sicher, daß er sich nicht nur ärgerte, weil er ausgefragt wurde, sondern daß er aktiv etwas verheimlichte.
»Ich bin bloß neugierig«, sagte sie so gleichmütig und ruhig, wie sie konnte. »Ich kenn mich mit diesen Sachen nicht aus. Ich bin noch nicht so lange hier wie du, hab noch nicht so viel gesehen.«
»Ich bin kein Kind, das man mit solchen Tricks zum Reden bringen kann«, bäffte er sie an. »Und wenn du der Boß sein willst und willst in der Sonne stehen und Fragen stellen, dann kannst du auch gleich der Kapitän von diesem Scheißkahn sein.« Er gab das Wühlen in seiner Manteltasche auf, ließ das Steuerrad sausen und stapfte abermals davon.
Bevor Renie noch etwas sagen konnte, winkte !Xabbu ihr aufgeregt zu. »Irgend etwas stimmt nicht«, sagte er und sprang vom Geländer aufs Deck.
Renie stutzte. Der flimmernde Hitzedunst verdichtete sich und formte Luftbilder zwischen den Ästen, tausend Reflexionen derselben Erscheinung. Das Bild, das überall entstand, war diesmal viel deutlicher, ein mächtiger gelber Schädel mit einer zottigen, verfilzten Mähne und Schweinsäuglein, die in ihren tiefen, horizontalen Falten beinahe verschwanden. Zwischen den hängenden Backen bleckten große Zahnstümpfe aus einem weit aufgerissenen Maul. Eine grollende Stimme knarrte und stotterte wie eine gestörte Funkübertragung. Renie konnte nur wenige Worte ausmachen: »… Auswärtige … Wald … schreckliches Schicksal …« Wie eine Ansage in einem besucherlosen Museum brabbelte und dröhnte das fürchterliche Gesicht noch eine Weile weiter, dann verblaßte es, und
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