Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
unter ihr ein, statt sie zu verschlingen.
Oberflächenspannung, begriff sie, doch weniger in Worten als in Bildern aus Naturdokus: Sie war zu klein, um hindurchzusinken.
Ein türgroßes Auge stieg neben ihr auf und glitt dann zurück in die trüben Fluten, doch die Kohäsion des Wassers war gebrochen, und sie drohte unterzugehen. Sie kämpfte darum, oben zu bleiben, bloß nicht panisch zu werden.
Ich bin in Wirklichkeit in einem Tank, ermahnte sie sich verzweifelt. In einem V-Tank auf einem Militärstützpunkt! Nichts von alledem ist real! Ich habe eine Sauerstoffmaske vor dem Gesicht – ich kann gar nicht ertrinken!
Doch sie konnte die Maske nicht mehr fühlen. Vielleicht hatte sie sich gelöst, und jetzt mußte sie in dem abgedichteten, sargartigen V-Tank sterben…
Sie schnaubte ihren angehaltenen Atem aus und sog dann frische Luft ein, dazu leider viel mehr sprühende Gischt, als ihr lieb war. Sie mußte erst prusten und spucken, bevor sie schreien konnte.
» !Xabbu ! Martine!« Sie streckte ihre Arme und Beine aus und versuchte verzweifelt, den Kopf über dem wie ein riesiges Trampolin federnden Wasser zu halten. Nur ein paar Dutzend Meter weiter war der Fluß ein brodelndes Chaos sich knuffender und puffender Riesenfische, die wie wild nach den fliegenden Insekten schnappten. Sie sah keine Spur des Blattes oder ihrer Begleiter mehr, nur noch berghohe Wellenkämme und schluchttiefe Wellentäler und die ziellosen Bewegungen der Schwirrer in der Luft. Einer davon war ganz nahe gekommen und schwebte jetzt so dicht über ihr, daß der Flügellärm einen Augenblick lang die erste Stimme seit Beginn des Tumults übertönte, die nicht ihre eigene war.
»Äi!« schrie jemand heiser in unmittelbarer Nähe, schwach, aber deutlich in Todesangst. »Äi!« Renie sprang so hoch über die Flußoberfläche, wie sie konnte, und erblickte T4b, der mit den Armen auf das Wasser eindrosch, um mit seinem massigen Robotersim nicht unterzugehen. Sie robbte auf ihn zu und mußte dabei gegen die Wucht der Wellen ankämpfen, die sich unter ihr auftürmten und seitlich auf sie einstürzten.
»Ich komme!« rief sie, aber er schien sie nicht zu hören. Er schrie wieder los und ruderte wild mit den Armen, eine Energieleistung, die er deutlich nicht länger als ein paar Sekunden durchhalten konnte. Seine ungestümen Bewegungen brachen die Oberflächenspannung und bewirkten, daß er in seinem selbst aufgewirbelten Schaum versank. Renie beeilte sich noch mehr und hatte den Abstand zwischen ihnen schon fast überwunden, als plötzlich mit einem explosionsartigen Spritzen ein silbergrauer Kopf wie die Spitze eines Hochgeschwindigkeitszuges aus dem Fluß aufschoß, ihn verschlang und wieder in die Tiefe tauchte.
Die anstürmenden und hinter ihr auslaufenden Wellen schaukelten Renie hin und her. Sie war starr vor Entsetzen. Er war weg. Einfach so.
Das Surren der Flügel über ihr wurde lauter, aber Renie konnte ihre Augen nicht von der Stelle abwenden, wo T4b verschluckt worden war, auch als die Flügel so dicht über ihr waren, daß sie scharf stechende Wassertropfen aufpeitschten.
»Pardon«, rief jemand. »Brauchst du Hilfe?«
In einem Traum gefangen, der mit jeder Sekunde bizarrer wurde, blickte Renie schließlich auf. Eine der Libellen schwebte in geringer Höhe über ihr. An der Seite guckte ein menschliches Gesicht heraus.
Renie war so erstaunt, daß die nächste Woge sie umwarf und unter sich begrub. Als sie sich wieder an die Oberfläche gekämpft hatte, waren die Libelle und das auf sie niederblickende Gogglegesicht immer noch da. »Hast du verstanden?« rief der unbegreifliche Kopf. »Ich hab dich gefragt, ob du Hilfe brauchst.«
Renie nickte nur schwach, denn sie konnte kein einziges Wort herausbringen. Eine Strickleiter mit blinkenden Aluminiumsprossen fiel aus dem Bauch des Insekts wie der letzte sich lösende Faden im Gewebe der Wirklichkeit. Renie klammerte sich an die unterste Sprosse; sie hatte nicht mehr die Kraft hochzusteigen. Eine riesige Wölbung schimmernder Schuppen tauchte neben ihr auf und ging gleich wieder unter, obendrauf eine Flosse, die so groß wie ein Kirchenfenster zu sein schien. Jemand in einem Jumpsuit kletterte zu ihr die Leiter hinunter. Eine starke Faust packte ihr Handgelenk und half ihr in den Bauch der Libelle hinauf.
Sie saß in einer kleinen gepolsterten Nische, eine Polyesterfilmdecke um die Schultern geschlungen. Es war schwer zu sagen, was sie mehr zum Vibrieren brachte, ihr
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