Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
starrte sie von seinem Platz auf der Tagesdecke an und ließ keinen Zweifel daran, daß sie nicht ohne weiteres damit rechnen konnte, ihre Saumseligkeit verziehen zu bekommen.
»Schau mich nicht so an.« Sie hob ihn hoch und nahm ihn liebevoll in die Armbeuge. »Frauchen hat einen sehr schlechten Tag. Frauchen tut der Kopf weh. Außerdem mußtest du nur fünf Minuten länger warten.«
Der Schwanz wedelte noch nicht, aber Mischa schien die Möglichkeit, ihr zu verzeihen, in Erwägung zu ziehen.
Sie riß eine Frischhaltepackung mit Hundefutter auf, quetschte es in seinen Napf und stellte ihm den hin. Sie sah ihm beim Essen zu und hatte den ersten leisen Anflug von Freude an diesem Arbeitstag. Das Wasser kochte noch nicht, und daher ging sie mit vorsichtigen Schritten ins Vorderzimmer – ihr Kopf pochte immer noch, obwohl das Schlimmste vorbei war – und stellte das Radio ganz leise an, einen Klassiksender in Toronto. Es gab keinen Wandbildschirm; eine gerahmte Serie mit Fotos von der Sankt Petersburger Flußpromenade und ein großes Bild der Berliner Synagoge in der Oranienburger Straße füllten den Platz, wo einmal der Bildschirm gewesen war. Olga bekam bei ihrer Arbeit genug von der modernen Welt mit. Selbst das Radio war ein antikes Teil, mit einem Knopf an der Seite für die Senderwahl und roten digitalen Ziffern, die vorne wie eine Feuersglut glommen.
Das Pfeifen des Kessels rief sie wieder in die Küche. Sie stellte die Halogenplatte ab, goß das Wasser auf den schon hineingegebenen Löffelvoll Honig in die Tasse und tauchte dann das Netz mit Darjeeling hinein. Das eine Mal, das sie im Studiogebäude ihrer Firma vorstellig geworden war, hatte jemand ihr einen dieser Fertigtees vorgesetzt, bei denen der Deckel von selbst aufsprang, wenn sie soweit waren, und obwohl sie auf eine Gehaltserhöhung gehofft und sich daher angestrengt bemüht hatte, sympathisch zu wirken, hatte sie sich nicht überwinden können, die Brühe zu trinken.
Sie hinkte aus dem Vorderzimmer. Im Radio spielte eines von Schuberts Impromptus, und das Gasfeuer fing langsam an, den Raum ordentlich zu heizen. Sie ließ sich im Sessel nieder, stellte die Tasse auf den Fußboden und klopfte sich leicht auf den Schenkel. Mischa beschnupperte die Tasse und ihre Knöchel, dann beschloß er anscheinend, daß er ausnahmsweise mal nicht so sein wollte, und hopste ihr auf den Schoß. Nachdem sie sich hinabgebeugt und sich ihren Tee genommen hatte, steckte der winzige Hund seine Nase unter den Saum ihres Pullovers, drückte sich ein paarmal mit den Pfoten ab, um die richtige Position zu finden, und schlief dann sofort ein.
Olga Pirofsky blickte ins Feuer und fragte sich, ob sie jetzt sterben mußte.
Die Kopfschmerzen hatten vor fast einem Jahr angefangen. Zum erstenmal waren sie genau auf dem Höhepunkt von Onkel Jingles Zuper Zyber Zauber gekommen, einer Sendung, die fast ein halbes Jahr lang geplant worden war und mit einer bei interaktiven Kindersendungen noch nie dagewesenen Aggressivität querbeet für Produkte aus allen möglichen Branchen geworben hatte. Die Schmerzen waren so plötzlich und mit derart hämmernder Heftigkeit aufgetreten, daß sie sofort offline gegangen war, weil sie sicher geglaubt hatte, daß ihrem wirklichen Körper etwas Schreckliches zugestoßen sei. Zum Glück wollte es der Zufall, daß das Zyber-Zauber-Programm die Spaltung des Onkels in zwölf identische Versionen vorsah – die Produktionsfirma gewährte freundlicherweise sämtlichen Onkel Jingles einen Anteil an den phantastisch hohen Senderechtezahlungen –, so daß ihre Abwesenheit nicht viel machte. Ohnehin war sie nur kurz weg gewesen: Der Schmerz war so rasch gegangen, wie er gekommen war, und zuhause ließ sich nichts Ungewöhnliches feststellen, keinerlei Anzeichen dafür, daß ihrem hilflosen physischen Körper etwas zugestoßen wäre.
Wenn die Sache damit beendet gewesen wäre, hätte sie nie mehr daran gedacht. Die Zyber-Zauber-Shows brachen wie erwartet alle Netzeinschaltrekorde und brachten ihr nach der Endabrechnung ein hübsches Sümmchen extra ein. (»Barney Bumm«, eine Art lebende Bombe, die sie zusammen mit Roland und einem anderen Onkel spontan erfunden hatte, gelangte sogar zu kurzfristiger Berühmtheit: Er trat in Komödienmonologen und den Online-Spielen anderer Leute auf und löste so etwas wie eine Welle ewig explodierender Hemden und Trinkbecher und Spielsachen aus.)
Zwei Monate später jedoch hatte sie einen weiteren Anfall, und
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