Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
hier nicht wieder reinkommen – ehrlich gesagt, verstehe ich nicht ganz, wie ihr überhaupt hier reingekommen seid. Es muß wohl sowas wie ’ne Hintertür von einer der andern Simwelten geben. Kein Wunder, wenn ich’s recht bedenke – Kunohara hat ’ne Menge schräger Geschichten laufen.« Er schüttelte bewundernd den Kopf. »Eure Freunde werden euch also irgendwo anders wiedertreffen müssen. Aber keine Bange. Wir können euch dort hinbefördern, ihr müßt nur wissen, wohin.« Er riß die Libelle scharf herum, um einem tiefhängenden Ast auszuweichen, und brachte sie dann mit einem leichten Antupfen der Steuerung sauber wieder auf Kurs.
»Ich bin Lenore Kwok«, sagte die Frau. »Euer Pilot heißt Cullen Geary, tagsüber ein ganz gewöhnlicher Saftsack, aber nachts … na ja, da ist er auch ein Saftsack.«
»Sehr schmeichelhaft, Lenilein.« Cullen grinste selbstgefällig.
Der Himmel vor dem Cockpitfenster war inzwischen dunkelviolett; die Bäume wurden rasch zu ungeheuerlichen senkrechten Schattenmassen. Renie schloß die Augen und versuchte, sich einen Reim auf das alles zu machen. Diese Leute schienen zu meinen, daß T4b und Martine und den anderen nichts passiert sei, daß sie einfach aus der Simulation hinauskatapultiert worden seien. Aber konnte das stimmen? Und selbst wenn sie einen Tod hier in der Simwelt überleben konnten – was ihr angesichts von Singhs Schicksal keineswegs ausgemacht erschien –, blieb die Frage bestehen, wie !Xabbu und sie sie jemals wiederfinden sollten. Das ganze Wahnsinnsprojekt war, wie es aussah, schon gescheitert, Sellars’ Mühe und Arbeit war umsonst gewesen.
»Was stellt dieser Ort hier dar?« fragte sie. »Diese Simulation.«
»N-n.« Cullen drohte scherzhaft mit dem Finger. Die Dämmerlandschaft sauste draußen vor der Frontscheibe vorbei. »Ihr habt uns noch nicht erzählt, wer ihr seid.«
Renie und !Xabbu wechselten einen Blick. Bei all ihren anderen Sorgen hatten sie und ihre Gefährten noch keine Zeit gehabt, sich für den Fall einer solchen Begegnung eine passende Geschichte auszudenken. Sie beschloß, es mit der halben Wahrheit zu versuchen.
»Ich heiße …«, sie suchte in der Erinnerung nach ihrem früheren Decknamen, »… Otepi. Irene Otepi. Ich war dabei, eine Systemanalyse für einen Mann namens Atasco durchzuführen.« Sie hielt inne und schaute, ob ihre Retter eine Reaktion zeigten. »Kennt ihr ihn?«
»Den Ethnologen?« Lenore überprüfte Anzeigen auf dem Instrumentenbrett. Falls sie etwas verbarg, machte sie das ausgezeichnet. »Ich hab von ihm gehört. Mittelamerikaner oder Südamerikaner oder sowas?«
»Südamerikaner«, sagte Cullen. »Kolumbier, um genau zu sein. Ich hab mal ein Interview mit ihm gesehen. Wie ist er?«
Renie zögerte. »Ich hab ihn nicht persönlich kennengelernt. Irgendwas lief schief – ich bin mir nicht sicher, was. Seine Simwelt… äh, es gab einen Aufstand oder sowas. Wir waren alle auf einem Schiff, und es fuhr einfach immer weiter.« Renie vermutete, daß sie sich fragten, warum sie nicht einfach offline gegangen war. Das war eine gute Frage, und ihr fiel keine andere Antwort ein als die bizarre Wahrheit. »Es war alles ziemlich verrückt. Irgendwie müssen wir hier reingesegelt sein. Das Schiff hat sich in ein Blatt verwandelt, das Blatt ist gekentert, ihr habt uns gefunden.«
!Xabbu hatte sie aufmerksam beobachtet und sprach jetzt sein korrektestes Englisch. »Ich heiße Henry Wonde«, sagte er. »Ich bin ein Student von Frau Otepi. Wie können wir unsere Freunde wiederfinden?«
Cullen schaute sich eine ganze Weile nach dem Pavian um, bevor ein Gewirr von Zweigen ihn zwang, seinen Blick schnell wieder nach draußen zu richten. »Wieso? Wollt ihr etwa online bleiben? Einfach in diese Atasco-Simulation zurückkehren oder was?«
Renie atmete tief durch. »Irgendwas stimmt nicht mit unsern Systemen, glaube ich. Wir können nicht offline gehen.«
Cullen pfiff beeindruckt. »Das ist allerdings merkwürdig.«
»Wenn wir im Stock sind, kriegen wir das bestimmt wieder hin«, sagte Lenore zuversichtlich. »Das wird schon werden.«
Renie war sich da nicht so sicher, sagte aber nichts. Die Libelle sauste weiter durch den dunkler werdenden Abend.
> Orlando hatte vor dem Aufwachen einen letzten Traum, ein trübes und verschwommenes Fragment, in dem ein gesichtsloses Kind in einem kalten, dunklen Zimmer saß und ihn anbettelte, dazubleiben und mit ihm zu spielen. Irgendwie ging es dabei um ein Geheimnis, eine
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