Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
diesmal mußte sie drei Tage lang mit der Sendung aussetzen. Sie war zum Arzt gegangen, der Streß als Ursache diagnostizierte und eine gemäßigte Behandlung mit Schmerzmitteln und Seritolin verschrieb. Als der nächste Anfall kam und die weiteren, die in beinahe wöchentlichen Abständen folgten, und als die Tests zum wiederholten Male keine physiologische Abnormität ergaben, wurde der Arzt zusehends ungeduldiger.
Olga hatte die Besuche bei ihm schließlich eingestellt. Es war schlimm genug, einen Arzt zu haben, der einem nicht helfen konnte; einer, der es einem deutlich übelnahm, daß man eine unerklärliche Krankheit hatte, war zuviel.
Sie kratzte die kleine Falte, die mitten über Mischas Schädel verlief. Der Papillon schnarchte leise. Wenigstens seine Welt war so, wie sie sein sollte.
Das Schubertstück ging zu Ende, und die Ansagerin verlas eine nicht enden wollende Reklame für Heimunterhaltungseinheiten, die trotz des dezenten Klassikradiotons nur geringfügig leichter zu verkraften war als das übliche überdrehte Geplärre. Olga wollte nicht den Hund wecken, indem sie aufstand, deshalb schloß sie die Augen, wartete darauf, daß die Musik wieder losging, und versuchte unterdessen, die Werbung zu überhören.
Es war nicht Streß, was diese grauenhaften Schmerzen verursachte. Das konnte nicht sein. Es war Jahre her, seit sie den wirklichen Streß ihres Lebens durchgemacht hatte: die schlimmsten Dinge, die fast unerträglichen Dinge waren alle lange vorbei. Ihre Arbeit war manchmal schwierig, aber sie war die meiste Zeit ihres Lebens vor Publikum aufgetreten, und das elektronische Interface konnte eine ganze Menge Sünden verhehlen. Jedenfalls liebte sie Kinder, liebte sie innig, und obwohl ihr die Kinder mitunter durchaus zuviel werden konnten, gab es nichts, was sie lieber getan hätte.
Jahre um Jahre um Jahre waren vergangen, seit sie Aleksander und das Kind verloren hatte, und die Wunden waren längst zu harten, tauben Narben verheilt. Sie war erst sechsundfünfzig, aber sie fühlte sich viel älter. Tatsächlich führte sie schon so lange das Leben einer alten Frau, daß sie jede andere Art zu leben beinahe vergessen hatte. Sie konnte die Liebhaber, die sie nach Aleksander gehabt hatte, an einer Hand abzählen, und keiner war länger als ein paar Monate in ihrem Leben geblieben. Sie ging selten aus einem anderen Grund als zum Einkaufen aus dem Haus, nicht weil sie vor der Außenwelt Angst hatte – aber wer hätte nicht manchmal Angst davor gehabt? –, sondern weil sie den Frieden und die Einsamkeit ihres häuslichen Lebens liebte und es dem Tumult vorzog, in dem andere Leute gedankenlos ihr Leben vertaten.
Was für ein Streß also? Das war keine Erklärung. Etwas eher Organisches mußte an ihr zehren, etwas tief in ihrem Gehirn oder ihren Drüsen Verstecktes, das die Ärzte einfach noch nicht ausfindig gemacht hatten.
Die Reklame endete und eine andere fing an. Olga Pirofsky seufzte. Und wenn sie nun wirklich starb, war das so schlimm? Worum müßte es ihr leid tun? Nur um Mischa, und dem würde bestimmt eine andere gute Seele ein Zuhause geben. Er würde ihren Verlust verschmerzen, solange irgend jemand ihm Liebe und Futter gab. Die einzigen anderen Sachen, die sie besaß, waren ihre Erinnerungen, und die zu verlieren, konnte durchaus ein Segen sein. Wie lange konnte ein Mensch denn trauern?
Sie lachte, bitter und traurig. »Wie lange? Den Rest des Lebens natürlich«, erzählte sie dem schlafenden Hund.
Endlich war das Ansagegeschnatter vorbei, und etwas von Brahms fing an, ein Klavierkonzert. Sie öffnete die Augen, damit sie einen Schluck Tee trinken konnte, ohne ihn auf den vertrauensvoll schnarchenden Mischa zu schütten. Mit ihrem Koordinationsvermögen war es nach einer ihrer Kopfwehattacken nie weit her. Sie fühlte sich hinterher Jahrzehnte älter.
Wenn also alles enden sollte, gab es irgend etwas, worum es ihr leid tun würde? Nicht um die Sendung. Die Figur war nicht ihre Idee gewesen, und obwohl sie fand, daß sie ihr eine Note gab, zu der die anderen alle nicht imstande waren – ihre Zirkusausbildung war in dieser Zeit so ungewöhnlich, daß der Unterschied spürbar sein mußte –, hatte das letzten Endes nicht viel zu besagen. Eine etwas aufwendige Art, Kindern Spiel- und Spaßsachen zu verkaufen, mehr war es im Grunde nicht. Als Onkel Jingle konnte sie hin und wieder ein bißchen was vermitteln, vielleicht ein trauriges Kind ein wenig aufheitern. Doch da die Zuschauer
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