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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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bezichtigen, ihr die Seele stehlen zu wollen. »Wenn’s sein muß«, war alles, was die Professorin sagte.
    »Du hast die Traumzeit erwähnt. Das ist auch ein Mythos, nicht wahr? Davon, daß es eine Zeit vor der Zeit gab und daß damals alle Aboriginemythen buchstäblich wahr waren?«
    »Sie ist mehr als das, Detective. Die tiefer blicken, glauben, daß man in sie eintreten kann. Daß wir in Träumen immer noch mit der Traumzeit in Berührung kommen.«
    Sie hatte mit besonderem Nachdruck gesprochen, aber Calliope wollte nicht in ein akademisches Kreuzfeuer verwickelt werden. »Aber du sagtest, daß einige Leute diesen Woolagaroomythos für – was, für modern halten?«
    »Ihrer Meinung nach ist er eine Allegorie des ersten Kontakts mit den Europäern und mit ihrer Technik. Sie sagen, der Mythos wolle den Eingeborenen klarmachen, daß Maschinen irgendwann ihre Schöpfer zerstören.«
    »Aber du teilst diese Meinung nicht.«
    »Die Weisheit der sogenannten Primitiven geht tiefer, als die meisten Leute, die sich zivilisiert nennen, verstehen können, Detective Skouros.« Die Härte ihres Tons hörte sich fast automatisch an, wie die Versteinerung einer alten Argumentation. »Man muß nicht erst ein Gewehr oder ein Automobil gesehen haben, um auf den Gedanken zu kommen, daß die Menschheit weniger auf das sehen sollte, was sie macht, als vielmehr darauf, was sie ist.«
    Calliope bemühte sich, die Frau wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, und die Professorin ließ es geschehen, als merkte sie, daß die Polizistin vor ihr mit der Debatte, in der sie so entschieden Stellung bezog, nichts zu tun hatte. Sie füllte den Speicher des Pads eine Viertelstunde lang mit Darstellungen verschiedener Versionen der Sage und verschiedener gelehrter Kommentare, die darüber geschrieben worden waren. Professor Jigalongs Gestik war markant, mit einem leisen Anflug von Theatralik, und ihre tiefe Sprechstimme beinahe hypnotisch, und selbst ihre beiläufigen Bemerkungen machten einen gründlich durchdachten Eindruck. Abermals hatte Calliope das Gefühl, von dem eigentümlichen Magnetismus der Professorin überwältigt zu werden. Zuerst hatte sie an eine sexuelle Ausstrahlung geglaubt – Professor Jigalong war eine gutaussehende und sehr eindrucksvolle Frau –, aber mehr und mehr merkte sie, daß die schiere Präsenz der Frau sie faszinierte und sie darauf eher mit der Ehrfurcht einer potentiellen Jüngerin reagierte.
    Calliope gefiel das gar nicht. Sie war kein Fan von irgendwem oder – was, schon gar keine Verehrerin irgendeiner Kultgestalt, und sie konnte sich nicht vorstellen, das wegen einer neurotisch rechthaberischen Volkskundlerin zu ändern. Aber es war schwer, sich nicht von der Frau in den Bann ziehen zu lassen.
    Während sie zuhörte (aber eigentlich nur halb, weil die Detailfülle sie zu erschlagen begann), ließ Calliope den Blick im Büro umherschweifen. Dabei erwies sich eine der klösterlich kahl wirkenden Wände als ein sehr großer – und offenbar ziemlich teurer – Wandbildschirm, der in Ruhestellung einen neutralen, mattweißen Ton hatte. Und es gab auch einen einzelnen Ziergegenstand, den sie vor den vielfarbigen Buchrücken in den Regalen übersehen hatte.
    Das mit einem hölzernen Ständer versehene Objekt war sehr schlicht – ein leicht unregelmäßiger Kreis aus gelblichem Elfenbein oder Knochen, senkrecht stehend wie eine Tunnelöffnung und mit dem fast unsichtbaren Fuß im ganzen nicht höher als eine Handlänge. Wenn er nicht die einzige Dekoration in dem ansonsten rein funktionalen Raum gewesen wäre, hätte Calliope ihn kaum bemerkt. Aber so fiel es ihr schwer, den Blick davon abzuwenden.
    »… und deshalb ist mir deine Hypothese, dieser Mythos könnte Teil eines Ritualmords sein, natürlich sehr unangenehm.«
    »Oh! Entschuldigung.« Sie hatte nicht mehr zugehört, und um ihre Verlegenheit zu verbergen, schüttelte Calliope ihr Pad ein wenig, als wäre es stehengeblieben. »Könntest du das bitte nochmal wiederholen?«
    Die Professorin warf ihr einen scharfen Blick zu, doch ihre Stimme blieb neutral. »Ich sagte, daß eine bestimmte Gruppe der uraustralischen Bevölkerung daran glaubt, daß die Traumzeit wiederkehrt. Wie die meisten fundamentalistischen Bewegungen ist das eine Reaktion auf erlittene Unterdrückung, auf politische Entrechtung. Und die darauf hoffen, sind keineswegs alle Dummköpfe oder leichtgläubige Gimpel.« Hier hielt sie einen Moment inne, als müßte sie sich zum

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