Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
Gefühle der Person zu eigen gemacht, von der es gelenkt wurde.
Der Gehirne, erinnerte sie sich – Plural. Der Sim hatte schließlich zwei Herren.
Mit der vordergründigen Absicht, eine reibungslose Organisation zu gewährleisten (aber auch, wußte sie insgeheim, um eine gewisse Distanz zwischen sich und der besitzergreifenden Persönlichkeit ihres Auftraggebers zu wahren), hatte Dulcinea Anwin einen virtuellen Büroraum für das Otherlandprojekt konstruiert – beziehungsweise für das »Projekt Dread«, wie sie es für sich nannte, wobei die Bedeutung »Grauensprojekt« durchaus mitgemeint war. Es war größtenteils Snap-on-Gear, ein ganz normaler Arbeitsraum mit Panoramafenstern, durch die man auf ein kaltes, hartes Sydney bei Nacht hinabblickte, eine Aussicht nach Dreads Geschmack, die sie eher deprimierend fand. Sie hätte sich für eine andere Aussicht starkmachen können, und mit Sicherheit hätte sie sie während ihrer Einzelschichten durch eine ihr genehmere Kulisse ersetzen können, aber wie bei so vielen Dingen in letzter Zeit stellte sie fest, daß sie sich widerspruchslos den Launen ihres Auftraggebers fügte.
Sie ließ ihre Beobachtungen Revue passieren und sprach diejenigen, die sie bedenkenlos mitteilen konnte, laut auf die Tagebuchdatei. Es gab mehr zu sagen als sonst: Zusammen mit dem Rest der kleinen Schar befand sich ihr Sim in einer schwierigen Situation. Die Mitglieder des Stammes, bei dem sie zu Gast waren, waren völlig außer sich, weil es eine Entführung gegeben hatte, und als Fremde waren sie automatisch verdächtig.
Sie überlegte kurz, ob einer von ihnen tatsächlich etwas mit dem Verschwinden zu tun haben konnte, aber das kam ihr unwahrscheinlich vor. Sie waren eine absonderliche Gruppe von Geheimniskrämern, aber sie konnte sich niemanden als Kidnapper oder Vergewaltiger vorstellen. Sie hatte sogar angefangen, im stillen so etwas wie eine Zuneigung zu ihren Mitreisenden zu entwickeln. Nein, wenn irgend jemand imstande war, etwas derart Krasses zu tun, dann ihr Boß – aber das war ausgeschlossen. Dread hatte sehr gute Gründe dafür, ihren virtuellen Stellvertreter oder die Gruppe, mit der er unterwegs war, keiner genaueren Überprüfung auszusetzen.
Dulcy starrte das Bild der virtuellen Stadt an, die sich unter ihr ausbreitete wie ein altmodischer Schaltplan, Millionen kleiner Programme, von denen jedes nur seine einzelne Facette beitrug, ohne sich um die Gesamtwirkung zu kümmern. Auch wenn sie sich noch so anstrengte, sie wurde die Sorge nicht ganz los, daß Dread bei ihrem gegenwärtigen virtuellen Dilemma seine Finger im Spiel haben könnte, obwohl sie andererseits das Gefühl hatte, daß sie letztlich bloß dünnhäutig war. Ja, er hatte sie angebäfft, sie bedroht, aber deswegen war er noch kein Vollidiot, oder? Er hatte keine Skrupel, jemanden zu töten – sie hatte erlebt, wie ein Dutzend oder mehr Leute bei dem Kommandoangriff auf Bolívar Atascos Insel ausgelöscht wurden, und hatte selbst jemanden auf seinen Befehl hin erschossen. Aber das waren bewaffnete Soldaten und abgebrühte Verbrecher gewesen, und es war im Krieg geschehen. Sozusagen.
Was die Bemerkung betraf, die er zu ihr gemacht hatte … na ja, manche Männer bedrohten einfach gern Frauen. Sie kannte die Sorte – einem davon, einem im Suff aggressiv werdenden russischen Söldner, hatte sie sogar einmal mit einem Kristallaschenbecher das Gesicht plastisch verändern müssen. Aber Dread würde sich nicht selbst ins Bier pissen, wie ihr Vater zu sagen pflegte. Dafür war er viel zu klug.
Aber genau das war das Problem, nicht wahr? Genau deswegen konnte sie keinen klaren Gedanken über das alles fassen. Sie hatte noch nie jemanden kennengelernt, der so clever war, wie Dread zu sein schien, oder zumindest hatte sie noch niemanden kennengelernt, der zudem sein unheimliches animalisches Charisma hatte. Daß sie ihn neulich noch geringschätzig als aufgeblasenen Prolo abgetan hatte, einen der Typen, die sich an Tod und Zerstörung aufgeilten, von denen sie schon viel zu viele gesehen hatte, kam ihr jetzt zu billig vor: Etwas anderes als die normale Legionärsbrutalität ging hinter diesem fremden dunklen Gesicht vor, und Dulcy mußte zugeben, daß sie anfing, sich dafür zu interessieren.
Nein, bloß nicht, sagte sie sich. Schlimm genug, daß du die Arbeit mit solchen Leuten zu deinem Beruf gemacht hast. Du kannst dich nicht im Ernst schon wieder mit einem einlassen wollen, oder? Wie oft mußt du eigentlich
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