Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
fast völlig von ihm abgeschnitten. Da sie im Zentrum seiner Hoffnungen standen, war jede Darstellung, aus der ihre aktuelle Lage nicht hervorging, im Grunde nicht zu gebrauchen. Doch in den letzten paar Tagen hatte sich ein erfreulicheres, aber nicht weniger verwirrendes Paradox ergeben: Ohne das Auftreten der Figur, die ihm nunmehr als sein größter Feind erschien, hätte er gar nichts über ihren Aufenthalt gewußt.
In den ganzen Jahren, in denen Sellars sein Wissen über die Gralsbruderschaft und ihr größenwahnsinniges Netzwerk zusammengetragen hatte, war er der Meinung gewesen, daß die Person, die er am genauesten beobachten müsse, Jongleur sei. Der älteste Mann der Welt war immer noch ein entsetzlich mächtiger und gerissener Feind, aber eine in der wirklichen Welt derart bedeutende Persönlichkeit konnte nicht anders, als Spuren ihres Handelns zu hinterlassen. Eine riesige, buschige Pflanze mit giftig aussehenden weißen Blüten nahe dem Zentrum des Informationsmodells versinnbildlichte alles, was Sellars über Jongleur wußte. Ihre Stengel konnten sich erstaunlich weit ausstrecken und wie dünne Finger in die hintersten Winkel des Gartens langen, ihre Wurzeln konnten den moosigen Boden in jeder Richtung aufwerfen, aber die Pflanze selbst war wenigstens ein in sich abgeschlossenes Gebilde, das sich untersuchen und sich theoretisch, wenn auch praktisch nicht ganz, erkennen ließ.
Aber in seinem verzweifelten Bemühen, gegen den Widerstand des Otherlandnetzwerks die freiwilligen Helfer zu erreichen, die er so plötzlich im Stich gelassen hatte, war Sellars mehr und mehr zu der Einsicht gelangt, daß das Netzwerk selbst oder etwas, das daraus hervorgegangen war, sein größtes und quälendstes Problem darstellte. Die virtuelle Pflanze, die Jongleur und seine Handlungen verkörperte, war begreifbar – wie eine reale Pflanze ernährte sie sich und konkurrierte um einen Platz an der Sonne, kämpfte genauso ums Überleben, wie Jongleur seine ganze Macht zur Verfolgung von Zielen einsetzte, die derzeit zwar noch verborgen waren, aber aller Wahrscheinlichkeit nach einleuchtenden eigenen Interessen dienten.
Doch das Betriebssystem, oder was sonst das Netzwerk so scharf bewachte, das Ding, das bereits mehrere Menschen getötet hatte und dem auch Sellars mehr als einmal beinahe zum Opfer gefallen wäre, war weitaus weniger begreiflich. In seinem von Otherland dominierten Garten trat es als eine Art Wucherpilz auf, einer dieser primitiven Organismen, die in der wirklichen Welt rasch und unsichtbar unter der Erde wachsen konnten, einer, der sich Tausende von Metern weit ausdehnte, bis er das größte Lebewesen überhaupt geworden war. Die tatsächliche Gegebenheit, die dieser virtuelle Pilz darstellte – »der Andere«, wie er in einigen internen Kommunikationen der Gralsbruderschaft verschleiernd genannt wurde –, war deutlich ein wesentlicher Bestandteil des Netzwerks selbst. In Sellars’ Gartenmodell, das auf allen Informationen basierte, die er über die Natur und das Wirken dieses Wesens gesammelt hatte, schickte dieses neugierige saprophytische Triebe in beinahe unfaßbarer Menge überallhin aus, doch die Fruchtkörper seiner Handlungen kamen nur an wenigen Stellen zum Vorschein.
Aber paradoxerweise war gerade die Tatsache, daß es fast allgegenwärtig war, für Sellars zu einem eminent praktischen Segen geworden.
In den ersten Stunden nach dem Angriff auf die Schutzburg der Atascos, als Sellars gezwungen gewesen war, das Netzwerk zu verlassen, und in zahlreichen vorsichtigen Experimenten seitdem hatte er herausgefunden, daß der Andere, einerlei was er in Wahrheit sein mochte, sich offenbar durch irgend etwas zu den Leuten hingezogen fühlte, die Sellars in das Netzwerk eingeschmuggelt hatte. Bei den wenigen Gelegenheiten, wo es ihm kurzfristig gelungen war, ihre Position zu peilen (bis auf einmal immer zu kurzfristig, um irgendeinen Kontakt herzustellen), hatte er auch entdeckt, daß diese Position von Ereignisringen umgeben war, die deutlich auf das Wirken des Andern hinwiesen. Es war seltsam – fast als ob seine Helfer eine Art von Faszination auf das Netzwerk selbst ausübten. Wenn es die naheliegende Faszination gewesen wäre, die ein Eindringling von außen logischerweise in einem Antikörper auslöst, wären sie ganz bestimmt schon längst eliminiert worden, wie es dem alten Singh ergangen war, der in seinem Zimmer in einem südafrikanischen Genesungsheim einem schweren Herzinfarkt erlegen
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