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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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setzte. Obwohl die anderen mehrere Meter entfernt saßen, jeder in seine eigene kleine Welt ängstlicher Befürchtungen eingesponnen, sprach William im Flüsterton. An seinem Verhalten war irgend etwas seltsam, das ich trotz meiner frisch entdeckten Fähigkeiten nicht verstehen oder benennen konnte. Klar war nur, daß er irgendwie innerlich aufgewühlt war – die Wahrnehmung, die ich von ihm hatte, besaß etwas eigenartig Vibrierendes, das eher auf Erregung als auf Niedergeschlagenheit hindeutete.
    Er sagte: ›Es wird, glaub ich, langsam Zeit, daß ich dir’n bißchen was über mich erzähle.‹ Ich wunderte mich ein wenig, denn er hatte sich über seine wirklichen Lebensumstände am hartnäckigsten ausgeschwiegen, dachte mir aber, es habe wohl etwas mit dem ›Todeszellengefühl‹ zu tun, das wir alle hatten.
    Ich erwiderte: ›Wenn du möchtest, gern. Ich müßte lügen, wenn ich sagen wollte, ich hätte keine Vermutungen über dich angestellt. Aber du bist mir keine Erklärung schuldig.‹
    ›Natürlich bin ich dir keine Erklärung schuldig‹, sagte er mit einem Anflug seiner alten Bissigkeit. ›Niemandem.‹ Doch statt mich von seiner Schroffheit abgestoßen zu fühlen, fiel mir zum erstenmal auf, daß etwas an seinem nordenglischen Akzent – einem Akzent, den man in Großbritannien anscheinend allein schon der Lautung wegen komisch fand und in vielen dort spielenden Stücken, die ich gehört hatte, als Lachnummer benutzte – nicht stimmte. Die Vokale klangen ein bißchen bemüht und wiesen ganz leichte Unterschiede auf.
    Er schwieg einen Moment. Als hätte er meine Gedanken gehört, sagte er dann: ›Weißt du, ich rede nicht immer so. Im realen Leben nicht.‹
    Ich wartete ab. Erklärte er etwas, oder wollte er sich für irgend etwas entschuldigen? Ich verstand nicht, warum er so aufgedreht wirkte, aber die Reaktionen der Leute auf Not und Unglück sind ja verschieden.
    ›Ich bin eigentlich überhaupt nicht so. Im RL.‹ Er schwenkte einen Arm, und sein Fledermausumhang rauschte. ›Es ist bloß, na ja, Schau. Um mich ein bißchen interessant zu machen.‹
    Zum erstenmal seit mehreren Tagen wünschte ich, ich könnte sehen wie andere Leute auch. Ich wollte ihm in die Augen schauen, sehen, was sich dort verbarg.
    Er beugte sich näher heran. ›Weißt du was, ich erzähl dir was Komisches. Du mußt versprechen, es nicht weiterzusagen.‹ Er wartete mein Ja oder Nein gar nicht erst ab. ›Ich bin in Wirklichkeit ganz anders – diese Vampirnummer, tödliche Schönheit und so, ist bloß eine Masche. Zum Beispiel bin ich alt.‹ Er lachte leise, nervös. ›Ziemlich alt, ehrlich gesagt. Achtzig und noch ein paar Monate drüber. Aber ich donner mich gern ein wenig auf.‹
    Ich stellte ihn mir so vor, als alten Mann, und fand den Gedanken ganz einleuchtend, aber ich wußte immer noch nicht so recht, was er bezweckte. Auch war ich mir nicht ganz sicher, ob er wirklich ein Mann war, und darum fragte ich ihn.
    ›Doch, doch. Leider ja. Nix so Aufregendes wie ein waschechter Transi. Ich bin schon seit Jahren nicht mehr aus dem Haus gewesen und weiß daher nicht, ob’s für einen wie mich heutzutage ein Etikett gibt – und wenn schon, wer schert sich im Netz schon drum, was einer ist?‹
    Ich mußte ihn fragen. Ich hatte das Gefühl, irgendwie manipuliert zu werden. ›Wenn es niemanden schert, warum erzählst du mir es dann, und warum machst du den Eindruck, dich zu schämen, William?‹
    Die Frage überrumpelte ihn. Er setzte sich zurück – ich fühlte ihn innerlich zuklappen und stellte mir ein geflügeltes Wesen vor, das sich im Regen auf einem Ast zusammenkauerte. ›Wahrscheinlich wollt ich’s bloß irgendwo loswerden‹, sagte er. ›Falls uns was zustößt. Du weißt schon.‹
    Es tat mir leid, daß ich ihm zu nahe getreten war. Am Vorabend der Schlacht, sagt man, erzählen Männer im Schützengraben Fremden ihre Lebensgeschichte. Es gibt vielleicht nichts, was einen so sehr auf sich selbst zurückwirft und doch zugleich mit anderen verbindet wie das Nahen des Todes. ›Was hat dich hier in das Netzwerk geführt?‹ fragte ich ihn ein wenig freundlicher.
    Er antwortete nicht sofort, und ich hatte das eigenartige Gefühl, daß er sich eine Geschichte zurechtlegte und sich noch einmal die Details durch den Kopf gehen ließ, ungefähr wie wenn man sich ein Märchen für ein kleines Kind ausdenkt. Doch als er sprach, klang er ehrlich.
    ›Ich bin kein junger Mensch‹, sagte er, ›aber ich mag junge

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