Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
anlegen, ihr ›Biwak‹, wie man sagt. Sie haben Klauenglieder, diese Haken unten an den Füßen, und wenn der Zug anhält, klammern sie sich aneinander und bilden lange, senkrecht hängende Ketten. Andere Ameisen haken sich dran, bis das Ganze zuletzt sowas wie ein viele Schichten dickes Netz nur aus Ameisen ist, das die Königin und ihre Brut umschließt.«
Es konnte gut sein, daß Renie im Leben schon einmal widerlichere Sachen gehört hatte, aber auf Anhieb wollten ihr keine einfallen. »Das sind Wanderameisen?«
»Eine bestimmte Art«, bejahte Lenore. »Wenn ihr aus Afrika seid, habt ihr vielleicht schon mal Treiberameisen gesehen …«
Ihre Ausführungen über das Insektenleben in Renies Heimat wurden jäh unterbrochen, als das Libellenflugzeug plötzlich wie ein Stein nach unten stürzte und sich überschlug, bevor es sich fing und in einem langen, flachen Gleitflug über den Graswald strich. Cullen juchzte. »Holla, das war flott!«
Renie hätte sich beinahe erbrochen. Selbst !Xabbu wirkte trotz seines Paviangesichts mehr als nur ein wenig verstört.
Lenore wurde in den nächsten paar Minuten durch Schlag auf Schlag folgende weitere Ausweichmanöver daran gehindert, ihren naturkundlichen Vortrag fortzusetzen. In einer fast ununterbrochenen Serie von Sturzflügen, jähen Kurven und Loopings, mit denen der Autopilot Vögeln entwischte, bevor Renie sie überhaupt erspäht hatte, schien die Libelle zehnmal so weit auf und nieder und hin und her zu fliegen wie vorwärts. Das liege daran, erläuterte Lenore, daß sie gar nicht die Absicht hätten, vorwärtszufliegen, sondern an Ort und Stelle auf den näher kommenden Schwarm warten wollten.
Wenn sie einmal gerade nicht in der Passagiernische gegen !Xabbu geschleudert wurde oder mit heftigen Übelkeitsattacken zu kämpfen hatte, wunderte sich Renie, wie realistisch diese Empfindungen der Schwerelosigkeit und der Gravitationskraft waren. Sie fand es kaum glaublich, daß diese allein von den V-Tanks erzeugt werden sollten, in denen ihre Körper im Augenblick lagen.
Ein ungeheurer gefiederter Schatten tauchte plötzlich vor der Scheibe auf. Ein weiterer blitzschneller Richtungswechsel, diesmal ein unerwarteter steiler Aufschwung, bei dem ihr die Innereien in die Schuhe zu sacken schienen, war schließlich zuviel. Renie schmeckte Magensaft hinten im Rachen und fühlte gleich darauf, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte. Das Erbrechen hatte in der Simulation keine sichtbaren Folgen, und einen Moment später war Renie, abgesehen von den abklingenden Kontraktionen im Bauchbereich, sogar zumute, als wäre es niemals geschehen.
Die Ausscheidungsschläuche in meiner Maske müssen es abpumpen, dachte sie schwach. In der Maske, die ich nicht mehr fühlen kann. Laut sagte sie: »Viel mehr in der Art verkrafte ich nicht.«
»Gebongt.« Cullen, dessen Körpersprache verriet, daß er ohnehin nicht allzu begeistert war, Passagiere an Bord zu haben, griff zum Handrad und ließ die Libelle in einer engen Spirale nach unten trudeln. »Es wird noch schlimmer werden, wenn der Schwarm erst auftaucht und wir versuchen, Messungen vorzunehmen und den verdammten Vögeln auszuweichen.«
»Schade«, sagte Lenore. »Ihr werdet nicht ganz so dicht dran sein. Aber wir sehen zu, daß wir euch irgendwo absetzen, wo ihr trotzdem noch einen guten Blick habt.« Sie deutete auf die Frontscheibe. »Seht, da ist die Wellenfront der Gejagten! Die Eciton sind beinahe da.«
Durch das dichte Laubwerk kam eine wilde Insektenmeute geprescht, auf deren Flügeln und Panzern das Frühlicht schimmerte – hektisch krabbelnde Käfer, sausende Fliegen, großes Getier wie Spinnen und Skorpione, die in ihrer Hast, dem übermächtigen Feind zu entkommen, langsamere und kleinere Flüchtlinge einfach niedertrampelten: Renie fand, es sah aus wie ein bizarrer Gefängnisausbruch in der Insektenwelt. Je länger es dauerte und je tiefer die Libelle abwärtstrudelte, um so dichter und chaotischer wurde die Welle der fliehenden Insekten. Die glatten, unmenschlichen Köpfe und die panisch trappelnden Gliederbeine bestürzten sie. Sie sahen aus wie eine Armee der Verdammten, die ohne Aussicht auf Erfolg vor den Posaunen des Jüngsten Gerichts Reißaus nahmen.
»Sehr ihr die da?« Lenore deutete auf eine Schar zartflügeliger Insekten, die über der aufgeregten Masse dahinflogen, aber viel zielgerichteter wirkten als das Fußvolk unter ihnen. »Das sind Ithomiiden, auch Ameisenschmetterlinge genannt. Sie folgen den
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