Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
Eciton überall hin, wie die Ameisenvögel – genauer gesagt, sie ernähren sich vom Kot der Vögel.«
Die Luke der Libelle ging zischend auf. Überwältigt von ein wenig zuviel Natur von der kloakigsten Seite hangelte sich Renie an der Leiter nach unten auf einen bemoosten Stein, wo sie sich vornüberbeugte, um wieder Blut in den Kopf zu bekommen. !Xabbu kam hinterhergeklettert und stellte sich neben sie.
»Verhaltet euch einfach ruhig«, rief Lenore ihnen durch die Luke zu. »Die Vögel und so haben reichlich zu fressen, aber trotzdem solltet ihr nicht unnötig auf euch aufmerksam machen. Wir holen euch in ungefähr einer halben Stunde wieder ab.«
»Was ist, wenn wir gefressen werden?«
»Dann werdet ihr vermutlich früher von der Strippe sein, als wir dachten«, war Lenores fröhliche Erwiderung. »Viel Spaß!«
»Na, vielen Dank auch«, knurrte Renie, aber die Libellenflügel hatten schon wieder zu schwirren angefangen und zwangen sie mit dem entstehenden Winddruck zu Boden, daher hatte sie Zweifel, daß die Frau sie gehört hatte. Einen Augenblick später schoß die Libelle mit der Gewalt eines kurzen und örtlich begrenzten Orkans in die Höhe, sauste im Zickzack über die heranbrausende Insektenstampede hinweg und verschwand im Wald.
Erst jetzt, wo sie draußen im Freien waren, konnte Renie die Geräusche richtig hören und erkannte dabei, daß sie die Natur noch nie als laut und lärmend wahrgenommen hatte. Überhaupt, wurde ihr klar, war das, was sie im Leben von der Natur zu sehen bekommen hatte, meistens von einem Klassik-Soundtrack und einer Erzählerstimme im Off untermalt gewesen. Hier war allein schon das Piepen der jagenden Vögel ohrenbetäubend, und bei dem Knacken und Schnarren der gehetzten Masse, verbunden mit den darüber hinbrummenden Fliegenschwärmen, hätten sie und !Xabbu meinen können, sie hörten den Radau einer bizarren Fabrikanlage, die mit aberwitziger Geschwindigkeit produzierte.
Sie ließ sich auf einem Moospolster nieder; als sie einsank und sich von steifen röhrenförmigen Stengeln umringt sah, begriff sie, daß das Moos beinahe so tief war wie sie hoch. Sie zog auf ein kahles Stück Fels um und setzte sich.
»Und, was denkst du?« fragte sie !Xabbu schließlich. »Das hier muß doch deinen Hoffnungen einen ziemlichen Auftrieb geben. Wenn die sowas bauen können, dann kannst du bestimmt auch die Umwelt bauen, die dir vorschwebt.«
Er hockte sich neben sie. »Ich muß gestehen, daß ich in den letzten Stunden gar nicht an mein Projekt gedacht habe. Ich bin sprachlos über das alles. Ich hätte mir nie träumen lassen, daß so etwas möglich ist.«
»Ich auch nicht.«
Er schüttelte den Kopf und legte seine winzige Affenstirn in Falten. »Das ist ein Grad von Realitätstreue, der mir richtig Angst macht, Renie. Ich denke, ich weiß jetzt, wie meinen Ahnen und Stammesgenossen zumute gewesen sein muß, als sie zum erstenmal ein Flugzeug sahen oder die Lichter einer großen Stadt.«
Renie spähte in die Ferne. »Das Gras bewegt sich. Wirklich, es bewegt sich!«
!Xabbu kniff seinerseits die tiefliegenden Augen zusammen. »Es sind die Ameisen. Großvater Mantis!« stieß er hervor und murmelte dann noch etwas Unverständliches in seiner Sprache. »Sieh doch bloß!«
Renie blieb gar nichts anderes übrig. Die Vorhutscharen des Ameisenschwarms ergossen sich wie Lava in unablässigen zähen Wellen auf die relativ freie Fläche vor ihnen, wobei sie Gras, Blätter und alles andere unter sich begruben. Die Ameisen waren größtenteils dunkelbraun mit rötlichen Hinterleibern. Jedes der schlanken Insekten war beinahe doppelt so lang, wie Renie hoch war, die gegliederten Fühler nicht mitgerechnet, die zu jeder Bewegung, die die Ameisen machten, ein Dutzendmal hierhin und dorthin zu schnellen schienen. Aber es war nicht der Eindruck, den sie als Einzelexemplare machten, womit sie ihre Betrachter so nachhaltig und grauenvoll in Bann schlugen.
Als der Haupttrupp des Schwarms ins Blickfeld brandete, klappte Renie das Kinn herunter, und sie brachte kein Wort mehr heraus. Die Front war zu einer Linie auseinandergezogen, die aus ihrer Sicht Meilen breit war, und es war keine dünne Front. Die brodelnde Ameisenmasse kam zu Tausenden aus dem Dickicht geströmt und so dicht geballt, daß es aussah, als hätte der ganze Rand der Welt Beine bekommen und marschierte auf sie zu.
Trotz des ersten Eindrucks von unerbittlicher Vorwärtsbewegung marschierten die Eciton nicht einfach. Die
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