Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
andere bissen andere Teile durch und transportierten sie nach hinten zum Hauptpulk des Schwarms. Binnen weniger Sekunden waren nur noch der schwere, glatte Hinterleib und daran hängende letzte Reste des Bruststücks übrig.
»Sie holen eine Submajor-Arbeiterin«, sagte Kunohara mit einer solchen Befriedigung, als wohnte er dem letzten Akt seiner Lieblingsoper bei. »Seht, die Soldaten sind schon wieder auf Patrouille gegangen. Fürs Transportieren sind sie nicht zuständig, das macht eine Submajor-Arbeiterin.«
Tatsächlich erschien jetzt eine größere Ameise wie gerufen, baute sich vor dem übriggebliebenen Spinnenrumpf auf, der größer war als die Ameise selbst, und packte den Rand des abgebissenen Bruststücks mit den Kiefern. Mehrere der kleineren Ameisen kamen ihr zur Hilfe, und gemeinsam wälzten sie die Beute zurück in den gefräßigen Haufen.
»Sehr ihr?« Kunohara kam langsam den Hügel herabspaziert, den Blick weiter auf den Eciton-Schwarm gerichtet. »Es sieht chaotisch aus, aber nur für das unkundige Auge. In Wirklichkeit erzeugt eine begrenzte, aber flexible Anzahl von Verhaltensweisen, vervielfacht von Tausenden oder Millionen von Individuen, extreme Komplexität und extreme Effizienz. Ameisen leben schon seit zehn Millionen Generationen, wohingegen wir nur Tausende vorzuweisen haben. Sie sind perfekt, und wir sind ihnen völlig gleichgültig – ein Autor nannte sie, wenn ich mich recht entsinne, ›mitleidlos und elegant‹. Natürlich könnte man dasselbe durchaus auch von höheren Simulationen sagen. Aber wir haben gerade erst damit angefangen, die Komplexität unseres eigenen künstlichen Lebens zu entdecken.« Er hielt inne und verzog sein Gesicht zu einem seltsamen Lächeln, schüchtern und doch nicht sehr gewinnend. »Ich halte schon wieder Vorträge. Meine Familie hielt mir immer vor, ich sei in den Klang meiner eigenen Stimme verliebt. Vielleicht verbringe ich deshalb heute soviel Zeit allein.«
Renie wußte nicht recht, was sie sagen sollte. »Wie mein Freund schon sagte, es ist sehr eindrucksvoll.«
»Vielen Dank. Aber jetzt ist es vielleicht an euch, etwas zu erklären.« Er machte ein paar Schritte den Stein hinunter auf sie zu. Unter dem weißen Gewand und den weißen Pluderhosen war Kunohara barfuß. Jetzt, wo er dicht vor ihnen stand, sah Renie, daß er nicht viel größer war als !Xabbu – das heißt, sein Sim war nur wenig größer, als !Xabbu in seinem richtigen Körper gewesen wäre. Sie gab auf. Es war zu sehr wie ein Problem in der Einsteinschen Relativitätstheorie. »Was führt euch hierher?« fragte Kunohara. »Ihr seid aus Atascos Simulationswelt gekommen, nicht wahr?«
Er wußte Bescheid. Wie konnte das sein? wunderte sich Renie. Aber klar, er hatte freien Zugang zu den ganzen Mechanismen der Simulation, während sie und !Xabbu hier nicht mehr Freiheit hatten als Laborratten.
»Ja«, gab sie zu. »Ja, das sind wir. Irgendwas funktionierte dort nicht richtig, deshalb kamen wir durch …«
»… eine Hintertür in meine Welt, ganz genau. Davon gibt es mehrere. Und daß etwas nicht richtig funktionierte, ist ziemlich untertrieben, wie ihr eigentlich wissen müßtet. Bolívar Atasco wurde getötet. Im wirklichen Leben.«
!Xabbus kleine Finger drückten wieder ihren Arm, aber etwas an Kunoharas hellen Augen gab ihr das Gefühl, daß es ein Fehler wäre zu lügen. »Ja, das wußten wir. Hast du Atasco gekannt?«
»Als einen Kollegen, ja. Wir haben Betriebsmittel gemeinsam genutzt – das Programmieren auf diesem Niveau ist fast unvorstellbar kostspielig. Deshalb arbeite ich hier mit der mikroskopischen Vergrößerung von einem der Wälder in Atascos Version von Kolumbien. Auf die Weise konnten wir beide in den Anfangsphasen das gleiche Rohmaterial nehmen, obwohl unsere Ausrichtung ganz verschieden war. Beide Welten sind Darstellungen desselben geographischen Raumes, aber der Effekt ist jeweils völlig anders. Bolívar Atascos Interesse war auf die menschliche Dimension gerichtet. Meines ist das nicht, wie ihr sicher bemerkt habt.«
Renie hatte das dunkle Gefühl, Zeit schinden zu müssen, obwohl nichts in Kunoharas Verhalten auf böse Absichten schließen ließ. »Was ist es denn, das dich an Insekten so sehr interessiert?«
Er gab ein merkwürdiges, hauchiges Kichern von sich. Renie hatte den Eindruck, daß sie etwas Erwartetes, aber dennoch Enttäuschendes getan hatte. »Es ist weniger so, daß ich mich sehr für Insekten interessiere, als daß alle andern sich
Weitere Kostenlose Bücher