Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
gesagt: »Meine Eltern streiten sich nie«, weil jemand sie geärgert und ständig von Scheidung geredet hatte.
Anfangs war es daher das, was Christabel Angst machte. Scheidung. Dieses Wort, das sich anhörte, wie wenn jemand eine Tür zuschlägt. Wenn deine Mami und dein Papi nicht mehr zusammenleben und du mit einem von ihnen mitgehen mußt.
Doch als sie schließlich den Mut aufgebracht hatte, zu fragen, hatte ihre Mutter sehr überrascht abgewehrt und gesagt: »Nein, nein, Christabel! Nein! Wir streiten uns nicht! Dein Papi macht sich Sorgen, das ist alles. Und ich mache mir auch Sorgen.« Aber sie wollte Christabel nicht sagen, worüber sie sich Sorgen machte, dabei wußte Christabel genau, es hatte etwas mit der MärchenBrille und Herrn Sellars’ Geheimnis zu tun, und was es auch war, es war Christabels Schuld.
Als ihre Eltern mit ihrem geflüsterten »Wir-streiten-uns-nicht!«-Streiten weitermachten, kam Christabel ein anderer Gedanke. Ihre Eltern hatten Angst, jemand könnte sie hören, aber vielleicht war es gar nicht Christabel, vor der sie so heimlich taten. Daß sie sich zankten, war geheim, aber vor wem wollten sie es geheimhalten?
In ihrer Vorstellung sah Christabel eine Szene aus einer Kindersendung im Netz, in der der Nordwind vorkam, ein erschreckendes, zorniges Gesicht, das am Himmel erschien. Vielleicht war irgend sowas in der Nähe und versuchte ihre Eltern zu belauschen, sie beim laut Reden zu ertappen. Etwas, das dünn und pustig war wie die Luft, dunkel wie eine Regenwolke. Etwas, das an jedem Fenster horchen konnte.
Woran es auch lag, nichts war mehr normal. Christabel wünschte, sie wäre dem doofen alten verkrüppelten Herrn Sellars niemals begegnet.
Gestern abend war es am schlimmsten gewesen. Zum erstenmal seit Tagen war das Streiten laut geworden. Ihre Mami hatte geweint, und ihr Papi hatte mit ganz kratziger Stimme geschrien. Sie waren beide so unglücklich, daß Christabel schon reinstürmen und sie anflehen wollte, aufzuhören, aber sie wußte, daß sie ihr dann böse gewesen wären, weil sie gehorcht hatte. Als Christabel heute morgen zum Frühstück heruntergekommen war, war ihr Papi draußen in der Garage gewesen, und ihre Mami hatte ganz traurig geguckt mit so roten, schwelligen Augen und ganz leise gesprochen. Christabel hatte kaum ihre Frühstücksflocken essen können.
Irgendwie war alles unnormal, unnormaler denn je, und sie wußte nicht, was sie tun sollte.
Christabel schaltete schließlich Mutter Lollipop ab, weil, wenn sie nicht ständig nach der Teekanne griff, fiel sie wenigstens nicht mehr um, da hörte sie hinter sich ein Geräusch. Sie drehte sich um und erwartete schon, den schmutzigen Jungen mit dem kaputten Zahn zu sehen, aber es war nur Vaters Freund Captain Parkins, der allerdings anders als sonst aussah. Er trug seine Uniform, aber das war sie gewohnt – sie hatte ihn kaum je ohne gesehen. Erst nach einem Moment wurde ihr klar, daß es der Blick auf seinem Gesicht war, der anders war. Er wirkte sehr ernst, knurrig und kalt.
»So, hallo, Chrissy«, sagte er. Sie haßte den Namen, aber sie schnitt kein Gesicht wie sonst meistens. Sie wäre am liebsten weggelaufen, aber das war albern. »Ist dein Papa zuhause?«
Sie nickte. »Er ist in der Garage.«
Er nickte ebenfalls. »Aha. Dann schau ich mal rein und red einen Moment mit ihm.«
Christabel sprang auf. Sie wußte nicht, warum, aber sie hatte plötzlich den Drang, vorauszulaufen und ihrem Papi Bescheid zu sagen, daß Captain Parkins im Anmarsch war. Statt dessen ging sie ihm über den Rasen ein kleines Stück voraus und lief dann nur die letzten Schritte.
»Papi! Captain Parkins ist da!«
Ihr Vater blickte verdutzt, und einen Moment lang war es wie das eine Mal, wo sie zufällig ins Bad gesprungen war, als er nackt vor der Dusche stand, aber er war nur dabei, die Sitze aus dem großen Van zu nehmen – aus dem »Wehickel«, wie er dazu sagte, wenn er gute Laune hatte – und sie auf den Boden zu stellen. Er hatte Shorts und ein T-Shirt an, und an Händen und Armen war er voll schwarzer Schmiere.
»Ist recht, Schätzchen«, sagte er. Er lächelte nicht.
»Tut mir leid, dich am Samstag zu stören, Mike«, sagte Captain Parkins, als er in die Garage trat.
»Macht doch nichts. Willst du ein Bier?«
Captain Parkins schüttelte den Kopf. »Ich hab heute Duncan mit, und du kannst dir ausrechnen, daß er das irgendwo in einem Bericht erwähnen würde. ›Ich glaubte, bei Captain Parkins einen
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