Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
das heißen?«
»Die wollen in den Berg rein. Du hast gesagt, diese Leute, die wollen Renie was. Meinst du, ich kann einfach abhauen und meine Tochter da drin allein lassen? Du hast nicht kapiert, was ich vorher gesagt hab, nich? Sie is in so ’nem großen alten Apparat drin. Sie … sie is hilflos.«
»Was sollen wir denn machen? Hingehen und sagen: ›Entschuldigung, wir wollen nur mal kurz rein, hoffentlich macht es euch nichts aus, hier zu warten.‹ Sollen wir’s damit versuchen?« Sarkasmus und Todesangst ergaben eine unangenehme Mischung. »Ich habe mit diesen Leuten zu tun gehabt, Mann. Das sind keine kleinen Ganoven – das sind Killer. Profis.«
Joseph begriff so gut wie gar nichts, aber er sah vor sich das Bild von Stephen, wie er in diesem gräßlichen Krankenhausbett lag, in Kunststoff gepackt wie ein Stück Fleisch im Laden, und er schämte sich. Alles andere in seinem Kopf außer diesem Bild war schattenhaft. Stephen und jetzt auch noch Renie, beide wie Tiere in Fallen gefangen. Seine Kinder. Wie hätte er wieder weggehen können?
»Wieso gehen wir nich da rein, wo ich raus bin?« sagte Joseph plötzlich.
Del Ray starrte ihn an, als ob er den Verstand verloren hätte. »Und dann? Verstecken wir uns im Berg und warten ab, bis sie kommen?«
Joseph zuckte mit den Achseln. Er nahm einen weiteren Schluck Wein, dann drückte er den Pfropfen zu und schob die Flasche in sein Hemd. »Es is ’n Militärbunker. Vielleicht gibt’s da drin Waffen, und wir können die Kerle abknallen. Aber du mußt nich mit – ich denke, das is nix für einen wie dich.« Er stand auf. »Ich geh jetzt.«
Del Ray hatte einen Ausdruck, als erblickte er gerade zum erstenmal eine völlig neue Tierart. »Du bist ja verrückt. Wieviel von dem Wein hast du getrunken?«
Joseph wußte, daß der andere Mann ihn zu Recht für verrückt hielt, aber so sehr er sich auch anstrengte, er wurde das Bild von Stephen im Bett nicht los. Er versuchte es durch ein anderes Bild zu ersetzen, ein vernünftiges Bild davon, wie er mit Del Ray ins Auto stieg und wieder den Berg hinunterfuhr, aber er konnte es sich einfach nicht vorstellen. Manchmal gab es Dinge, die mußten sein, Punkt. Frau gestorben, Mann allein mit zwei Kindern? Was bleibt dir übrig? Du machst weiter, selbst wenn du dich die meiste Zeit über betrinken mußt, um durchzuhalten.
Joseph machte sich schwerfällig auf, den mondbeschienenen Hang wieder hochzusteigen, diesmal aber in weitem Bogen um den Eingang herum, zu der Stelle an der anderen Seite, wo er seiner Erinnerung nach herausgekommen war. Ein Rascheln im Gebüsch erschreckte ihn dermaßen, daß er sich fast in die Hose gemacht hätte. Del Ray hatte ihn eingeholt; seine Augen waren immer noch weit, sein Atem dampfte. »Du bist verrückt«, wiederholte er flüsternd. »Die werden uns beide umbringen, ist dir das klar?«
Joseph war bereits völlig erledigt, aber er arbeitete sich verbissen weiter zwischen den schroffen Felsen empor. »Wahrscheinlich.«
Aus irgendeinem Grund war der Weg durch den Belüftungsschacht hinein viel schwieriger, als er hinaus gewesen war. Vier Flaschen Mountain Rose, die an seinem Leib knufften und schwappten, mochten mit daran schuld sein, gar nicht zu reden von der Schimpf- und Jammerlitanei, die der hinter ihm im Rohr steckende Del Ray ständig vor sich hinmurmelte.
»Warum fährst du dann nich einfach?« sagte Joseph schließlich, als er eingeklemmt in einen Winkel des Schachtes eine Verschnaufpause einlegte. »Fahr doch.«
»Ganz einfach: Wenn sie dich und deine ganze verdammte Familie umbringen, heißt das noch lange nicht, daß sie nicht danach mich holen kommen, quasi der Vollständigkeit halber.« Del Ray bleckte die Zähne. »Dabei weiß ich nicht mal, worum es dabei eigentlich geht – jedenfalls nicht richtig. Vielleicht können wir von Renie erfahren, was sie wissen wollen. Und dann einen Handel machen oder so.«
Der beengte und beschwerliche Abstieg kam zum Abschluß, als sie das Ende des Luftrohrs erreichten und dort feststellten, daß das Gitter, das Joseph seinerzeit entfernt hatte, wieder ordentlich angeschraubt worden war.
»Verdammt nochmal, Mann!« fauchte Del Ray. »Jetzt tritt endlich dieses Scheißding raus!«
Joseph versetzte dem Gitter einen kräftigen Tritt mit dem Absatz, so daß eine der Schrauben herausflog und eine Ecke sich löste. Nach einigen weiteren Tritten polterte es auf den Betonfußboden.
Sie eilten durch die weitläufige Garagenhöhle ins Innere
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