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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Uschebti-Datei war anscheinend so etwas wie ein letzter Wille, eine dramatische Nummer nach dem Strickmuster »Wenn du das siehst, bin ich schon tot«, inszeniert für einen Erben, den es allem Anschein nach nie gegeben hatte. Was würden seine wirklichen Nachfolger wohl davon halten, wenn er irgendwann doch das Leben, in das er sich so sehr verbissen hatte, loslassen mußte? Ob sie wohl genauso ratlos waren wie sie?
    Männer und ihre Geheimnisse. Aber so funktionierte ihre Macht anscheinend. Sie hatten solche inneren Widerstände dagegen, über wichtige Dinge zu reden, daß man meinen konnte, jemand versuchte ihnen die Seele zu stehlen. Dread war ein weiteres Beispiel – ein überaus schlagendes Beispiel, wenn sie’s recht überlegte. Was wußte sie denn schon über ihn? Klar, bei dem Gewerbe, dem er nachging, konnte sie nicht erwarten, gleich etwas Brauchbares zu finden, wenn sie kurz einmal die Nase in seine persönlichen Angelegenheiten steckte, aber es konsternierte sie immer noch, wie sehr er ein unbeschriebenes Blatt war – oder sich zu einem gemacht hatte. In keiner der internationalen Dateien, in Verbrecherdatenbanken oder sonstwo, war auch nur so etwas wie ein dreadförmiges Loch zu finden, nirgends. Er war Australier und dem Aussehen nach gemischtrassiger Herkunft, aber das traf auf Millionen andere auch zu. Wo stammte er her? Was hatte er für eine Geschichte? Sie war bestimmt nicht uninteressant. Jongleur hatte Geheimnisse. Alle mächtigen Männer hatten Geheimnisse. Was also hatte John More Dread zu verbergen?
    Sie hörte es, bevor sie die Schattenform auf dem Bürgersteig einen halben Block vor sich sah – ein leises Würgen wie von einer Katze, die ein Haarknäuel heraufholt. Sie ging langsamer, weil sie nicht wußte, womit sie es zu tun hatte, und nach einigen stockenden Schritten erkannte sie den Umriß eines stehenden Mannes und einer knienden Frau. Zuerst dachte Dulcy, er hielte ihr den Kopf, während sie sich übergab – die Folge eines spätnächtlichen Besäufnisses in einer der vielen Kneipen –, aber als sie gerade auf die Straße treten wollte, um einen Bogen um das Paar zu machen, sah sie, daß der Mann ihr in Wirklichkeit den Kopf niederhielt und sie auf das Pflaster drückte.
    Der blonde Mann schaute auf, und der Blick, mit dem er Dulcy kurz taxierte, war dermaßen deutlich wegwerfend, daß sie trotz ihrer jäh aufflackernden Angst die Wut packte. Er wandte sich wieder der Frau zu und herrschte sie in einer slawisch klingenden Sprache barsch an, und die weinende Frau würgte in derselben Sprache eine Antwort heraus. Dulcy fiel ein, daß Dread die vielen Einwanderer erwähnt hatte, die nach der Serie katastrophaler Mißernten in der Ukraine nach Redfern gekommen waren. Er hatte es in einem beinahe ärgerlichen Ton gesagt, den sie zu dem Zeitpunkt für eine Art von Weißenfeindlichkeit gehalten hatte; erst hinterher war ihr klargeworden, daß der exotische Mister Dread mit dem Rest der Menschheit eine sehr verbreitete Empfindung teilte – Unbehagen über die Veränderung der altvertrauten heimischen Umgebung.
    Die Frau, die aus einem Riß in der Lippe zu bluten schien, machte einen unbeholfenen Versuch aufzustehen. Der Mann, dessen Mund ein harter Strich quer über dem breiten Kiefer war, drückte sie in der fiesen Art eines Schulhofschlägers wieder nach unten. Etwas an der Situation reizte ihre vom langen Leben in Manhattan abgestumpften Nerven auf. Dulcy blieb ein paar Meter vor der Szene des ungleichen Kampfes stehen und sagte laut: »Laß sie in Ruhe!«
    Der Mann warf ihr einen finsteren Blick zu, dann wandte er sich wieder der Frau zu und stieß sie so heftig zu Boden, daß sie ihr Sträuben aufgab und ganz auf Hände und Knie plumpste.
    »Ich hab gesagt, du sollst sie in Ruhe lassen!«
    »Du willst auch?« Er hatte einen starken Akzent, war aber gut zu verstehen.
    »Laß sie aufstehen. Wenn sie deine Freundin ist, dann gewöhn dir an, sie anständig zu behandeln. Wenn nicht, hetz ich dir in zwanzig Sekunden die Polizei auf den Hals.«
    »Nein«, sagte die Frau mit fast panischer Stimme. Sie hatte immer noch die breite Hand des Mannes auf dem Kopf und blickte unter den gespreizten Fingern hervor wie ein geprügelter Hund. »Nein, okay. Ist okay. Er nichts tun mir.«
    »Quatsch. Du blutest.«
    Das Gesicht des Mannes, in dem zunächst eine leise Belustigung gespielt hatte, veränderte sich. Seine finstere Miene wurde drohend. Er versetzte der Frau abermals einen jähen Stoß, so

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