Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
nachdenken, wenn wieder eine breitere Stelle kommt, wo wir übernachten können.«
    »Sag bloß nicht, daß wir auf diesem Berg übernachten müssen!« ereiferte sich Sam. »Der Aufstieg hat doch höchstens zwei Stunden gedauert!«
    »Richtig«, erwiderte !Xabbu , »aber ich denke, daß wir sehr hoch am Berg überhaupt erst losgegangen sind. Bis ganz nach unten dürfte es wesentlich länger dauern.«
    »Wenn wir hier heil runterkommen«, meinte Renie, während sie sich an der Engstelle und dem viel zu tiefen Blick auf die nackte schwarze Steilwand darunter vorbeidrückte, »dann kann es von mir aus eine Woche dauern.«
     
    Auch nach stundenlangem Stapfen bergab schienen sie der weißen Wolkenbank nicht näher gekommen zu sein. Sie waren alle müde, Renie, die nicht geschlafen hatte, vielleicht am meisten. Daher war es kein Wunder, daß etwas passierte.
    Sie hatten einen der schmaleren Abschnitte des Pfades erreicht, nicht den schlimmsten bislang – mitunter hatten sie sich seitlich voranschieben müssen, den Rücken an den harten Fels der Bergwand gepreßt –, aber nicht einmal so breit, daß zwei von ihnen gefahrlos nebeneinander stehen konnten. Sam war dicht hinter Renie, !Xabbu und Felix Jongleur gingen an erster und zweiter Stelle. Klement, der zeitweise weit zurückhing, war auf einmal so nahe, daß er die letzte in der Reihe mit ausgestreckter Hand berühren konnte, und aus irgendeinem Grund tat er genau das.
    Sam erschrak furchtbar, als Klements Finger durch ihr Haar strichen, und machte einen Satz nach vorn, wobei sie versuchte, sich innen an Renies Schulter vorbeizuquetschen. Einen Moment lang blockierten die beiden sich gegenseitig, dann setzte Renie, die dem Mädchen Platz machen wollte, den Fuß zu weit nach außen, und der Rand des Pfades zerbröckelte unter ihr wie trockenes Brot. Sie ruderte heftig mit den Armen, was ihr aber nichts nützte und nur ihre Chancen erhöhte, Sam mit in die Tiefe zu reißen. Mit einem lauten Aufschrei kippte Renie nach außen, noch im Moment des drohenden Herzstillstands erfüllt von dem schmerzlichen Bewußtsein, daß !Xabbus Schulter- und Kopfdrehung – blitzschnell und doch auf jeden Fall zu spät – das letzte war, was sie von ihm sehen würde. Da schloß sich etwas wie eine eiserne Schelle um ihr Handgelenk, und sie prallte mit solcher Wucht auf den Wegrand, daß es ihr den Atem verschlug. Ihre Beine strampelten frei über dem Nichts.
    Bei dem hektischen Getümmel, das entstand, als ihre Gefährten ihr hastig beisprangen, erkannte Renie erst im nachhinein, daß es Felix Jongleurs Hand gewesen war, die sie gepackt, sein drahtiger Körper, der sie am Abrutschen gehindert hatte, bis !Xabbu und Sam sie sicher über die Kante ziehen konnten.
    Platt auf dem Bauch liegend, ein Rauschen und Prickeln im Kopf, als ob ihr Blut elektrischer Strom wäre, rang Renie darum, wieder Luft in die Lungen zu bekommen. Jongleur sah auf sie herab wie ein experimentierender Wissenschaftler auf eine sterbende Laborratte. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir für einen der andern die Mühe gemacht hätte«, sagte er, drehte sich um und setzte seinen Weg fort.
    Trotz des Schocks und der Übelkeit, die sie verspürte, war Renie zunächst einmal damit beschäftigt, sich darüber klarzuwerden, was sie davon halten sollte.
     
    Es gab keine Dunkelheit auf dem Berg, und die seltsamen Van-Gogh-Sterne, die während des Aufstiegs über ihnen gehangen hatten, erschienen nicht wieder. Dieser erste Marsch schien Wochen her zu sein, aber nach Renies Rechnung konnten keine achtundvierzig Stunden vergangen sein, seit sie und !Xabbu mit Martine und den anderen aus der Trojasimulation auf eben diesen Pfad expediert worden waren. Jetzt waren diese anderen fort – unauffindbar oder tot. Von der ganzen Schar, die Sellars seinerzeit versammelt hatte, waren nur noch drei übrig: !Xabbu , Sam und sie.
    Der Weg den Berg hinauf war kurz gewesen, aber der Rückweg versprach sehr viel länger zu werden. Deprimiert darüber, daß die silberigen Wolken weit unter ihnen nicht näher zu kommen schienen, und zunehmend erschöpft hielten sie sich auf der Suche nach einem geeigneten Rastplatz viel länger auf den Beinen als eigentlich zu verantworten. Irgendwann hatte Renie das Gefühl, keinen Schritt mehr gehen zu können, und doch dauerte es noch eine Stunde, bis sie endlich an eine Einbuchtung in der Flanke des Berges kamen, einen mehrere Meter breiten und tiefen Knick im Weg, wo sie sich ein Stück vom Abgrund

Weitere Kostenlose Bücher