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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Umständen hätte sein sanftes Murmeln vielleicht romantisch und die steinerne Brücke unter ihren Füßen malerisch gewirkt. Als sich dann in der Flußmitte die Dunstschwaden verzogen, sah Sam, daß aus der Wiesenböschung, die sie beim Betreten der Brücke drüben gesehen hatten, ein nebelverhangener Waldrand mit steilen schwarzen Bergen im Hintergrund geworden war. Sie mußte zugeben, daß es ein ziemlich gekonnter Trick war.
    Andererseits hatte sie von Tricks die Nase gestrichen voll.
    »Wie?« flüsterte sie !Xabbu zu. Azador ging ein Stück vor ihnen wie ein Schlafwandler. »Wie hat er diese Brücke gefunden? Und woher hast du gewußt, daß er das schaffen würde? Wir sind vorher schon an dieser Stelle vorbeigekommen, und da war voll keine Brücke da.«
    »Ich habe den Verdacht, daß wir nicht hier waren.« Ihr Freund überflog mit den Augen suchend die geschlossene Front uralter Bäume, vielleicht weil er hoffte, abermals eines von Renies Zeichen an einem Ast flattern zu sehen. »Nicht an dem Hier, wo es eine Brücke gibt, meine ich damit.« Er sah ihren Blick und lächelte. »Mir ist es auch ein Rätsel, Sam, aber ich glaube, Azador stammt ursprünglich aus diesem … Land des Andern, dieser selbständigen Schöpfung des Betriebssystems, und deshalb geschehen bei ihm Dinge, die bei uns nicht geschehen. Das ist meine Vermutung.«
    »Soweit nicht schlecht, deine Vermutung«, mußte Sam zugeben.
    Azador war bereits von der Brücke herunter und schritt jetzt zielstrebig die dunkle Uferböschung hinauf und auf die Bäume zu.
    »Wir sollten anhalten«, rief !Xabbu ihm hinterher. »Es wird dunkel!« Azador ging nicht langsamer, drehte sich nicht einmal um. »Wir müssen ihn einholen«, sagte !Xabbu zu Sam. »Wenn wir ihn im Wald verlieren, finden wir ihn vielleicht nie wieder.«
    Wo die Brücke sich sanft zum Ufer neigte, stieß sie auf eine derart mit Gras zugewachsene Straße, daß sie vom Fluß aus nicht zu erkennen gewesen war. Die von vielen alten und ein paar neuer aussehenden Spurrillen zerfurchte Piste führte im Bogen in den Wald hinein. Sam sah sich um. Der hinter ihnen herkommende Jongleur hatten den langsamen Schritt eines Mannes, der auf einen finsteren und unheimlichen Ort zugeht.
    Sie holten Azador ein, als er gerade zwischen den Bäumen eintauchte.
    »Ich denke, es ist Zeit, daß wir haltmachen«, sagte !Xabbu zu ihm. »Es wird dunkel, und wir sind müde.«
    Azador drehte sich um und betrachtete ihn mit eigentümlich milden Augen. »Es ist gleich da vorne.«
    »Was ist da vorne?«
    »Da kommen Feuer, viele Feuer. Die Pferde werden gestriegelt sein und glänzen. Die ganze Schar wird aufs prächtigste herausgeputzt sein. Und singen!« Er schien mit jemand anders zu reden; sein Blick war schon wieder auf den gewundenen Weg durch den Wald gerichtet. »Schun! Horcht! Ich kann sie fast schon hören.«
    Sam schluckte eine Frage herunter, die sie hatte stellen wollen. Sie hörte nichts als das samtige Streifen des Windes durch zahllose Kronen.
    Auch Azador machte eine lauschende Miene, doch dann verdüsterte sich sein Blick ein wenig. »Nein, doch nicht. Wir sind wohl noch nicht nahe genug.«
    Sam war todmüde, und ihr taten die Füße weh. Einen ganzen anstrengenden Tag lang hatten sie nach der Brücke gesucht, und jetzt, wo sie hinübergegangen waren, wollte sie ganz bestimmt nicht auch noch den Abend hinter Azador herlaufen, während dieser hier in der Wildnis nach magischen Elfen oder Waldmusikanten oder sonstwas suchte. Sie wollte ihm das gerade klarmachen, als etwas in seinen Augen, ein gehetztes und doch sehnsuchtsvolles Flackern, das sie vorher noch nicht bei ihm gesehen hatte, ihr den Mund verschloß.
    Der Wald war wirklichkeitsgetreuer als alles, was ihnen seit ihrer Ankunft auf dem schwarzen Berg begegnet war, auch wenn die Blätter der Bäume höher oben in dem abnehmenden Licht nicht scharf und einzeln umrissen waren, sondern zu einer vagen Masse verschwammen. Aber immerhin gingen sie über unverkennbares Gras, obwohl es dichter und rasenähnlicher war als der Bewuchs, den Sam in einem echten wilden Wald vermutet hätte, und es gab Moos auf den Steinen und den Baumstämmen. Das einzige, was ihr eindeutig falsch vorkam, war die Geräuschlosigkeit, das Fehlen von Windesrauschen, Vogelsang oder Grillenzirpen. Der Wald war so still wie eine leere Kirche.
    Azador führte sie weiter und hatte dabei staunend die Hände ausgestreckt, als wollte er irgendwelche Dinge berühren, die er im Geiste vor sich

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