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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Jahren brachten ihr die beiden Gerüche im Nu ihre Kindheit zurück. Wie ihr Vater seine großen Hände von hinten auf Mamas Schultern oder um ihre Taille gelegt hatte, während sie die Probe verfolgten. Mama immer, immer mit einer Zigarette im Mundwinkel, das Kinn leicht angehoben, damit sie sich den Rauch nicht in die Augen blies. Vor ihrer Krankheit hatte sie den kerzengeraden, schlanken Körper einer Tänzerin gehabt, fest und muskulös noch mit über siebzig.
    »Meine polnische Prinzessin«, hatte Papa Mama genannt. »Seht sie euch an«, hatte er immer halb spöttisch, halb stolz gesagt. »Sie hat vielleicht kein königliches Blut, aber einen königlichen Körperbau. Hintern nicht für fünf Pfennig, Hüften wie ein Junge.« Und dann gab er Mama einen freundlichen Klaps auf das gelobte Körperteil, und sie fauchte ihn an wie eine Katze, wenn sie von einem Kind geärgert wird. Papa lachte und zwinkerte Olga und die Welt im allgemeinen an. Seht, was für eine schöne Frau ich habe! hieß das. Und seht, was für ein Temperament sie hat!
    Beide waren jetzt schon lange tot, Mama an Krebs gestorben, Papa ihr bald darauf gefolgt, wie alle es erwartet hatten. Er hatte es selbst angekündigt: »Ich will ohne sie nicht weiterleben. Dir und deinem Bruder, Olga, möge Gott langes Leben schenken. Nimm’s mir nicht übel, wenn ich die Enkel nicht mehr abwarte.«
    Aber es hatte natürlich keine Enkel gegeben. Olgas Bruder Benjamin war nicht lange nach den Eltern gestorben, weil er das seltene Pech gehabt hatte, auf einer Bergwanderung mit Kommilitonen einen Blinddarmdurchbruch zu erleiden. Und Jahre vorher schon hatte sie in einer Woche ihr Kind und ihren Mann verloren, ihre ganze Hoffnung auf Glück im Leben, wie sie damals gedacht hatte und im Grunde heute noch dachte.
    Ich bin die letzte, sagte sie sich. Die Linie von Mamas und Papas Eltern und Großeltern endet mit mir – vielleicht heute, hier in diesem Gebäude. Zum erstenmal seit Tagen brach die Verzweiflung über Olga herein. So traurig, so … endgültig. Die ganzen Pläne, die diese Menschen machten, die Kinderdeckchen, die sie strickten, das Geld, das sie auf die Seite legten, und am Ende all dessen steht eine alte Frau, die wahrscheinlich wegen einer Wahnvorstellung ihr Leben wegwirft.
    Der Fahrstuhl schien träge wie eine steigende Flut aufwärts zu kriechen. Eine nach der anderen leuchteten die Zahlen auf der kleinen schwarzen Glastafel auf. So traurig.
    »Hast du Angehörige hier in der Gegend?« fragte sie Jerome, nur um eine menschliche Stimme zu hören.
    »Meine Mutter.« Er starrte wie hypnotisiert auf die wechselnden Ziffern der Anzeige. Sie fragte sich, wie gut sein Sehvermögen war. Sie stiegen von 35 auf 36 auf 37. Für einen modernen Aufzug, fand Olga, fuhr das Ding elend langsam. »Sie wohnt in Garyville«, fuhr Jerome fort. »Mein Bruder wohnt in Houston, Texas.«
    »Olga? Kannst du mich hören?« Die plötzliche Stimme in ihrem Kopf überraschte sie so, daß sie einen leisen Schreckenslaut ausstieß.
    »Was ist los, Ol-ga?« fragte Jerome.
    »Bloß Kopfschmerzen.« Sie legte eine Hand an die Schläfe. »Wer ist da?« subvokalisierte sie. »Herr Ramsey, bist du das?«
    »O Mann, ich hätte nicht gedacht, daß ich dich nochmal erreiche. Du mußt sofort aus dem Aufzug raus.«
    Sie blickte auf die Anzeigetafel. 40. 41. »Wieso denn das? Woher weißt du überhaupt…?«
    »Ol-ga, du siehst echt schlecht aus.«
    Sie machte eine abwehrende Handbewegung zum Zeichen, daß sie nicht reden wollte.
    »Du mußt aus dem Aufzug raus!« Ramseys unüberhörbare Panik rüttelte sie auf. »Sofort! Ich weiß nicht, was du vorhast, aber sämtliche Aufzüge von unten fahren nur bis zum fünfundvierzigsten Stock, zum Sicherheitsdienst. Wenn du da aussteigst, wirst du festgenommen.«
    Die gespielten Kopfschmerzen wurden ernst. »Halt mal an!« sagte sie zu Jerome. »Auf welchem Stock sind wir?« Die Leuchttafel zeigte 43 an. »Ich muß dringend auf die Toilette, Jerome. Geht das?«
    »Na klar.« Doch als er den Knopf drückte, war der Aufzug schon zum nächsten Stockwerk weitergeglitten. Olga hielt den Atem an. Der Aufzug blieb stehen, die Tür ging auf, und man sah einen mit Teppichboden ausgelegten Flur und eine merkwürdig festliche Beleuchtung. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie, daß schimmernde Neonkunstwerke an den Wänden hingen. Jerome stellte sich in die offene Tür. Olga stutzte. Natürlich, begriff sie, er ging davon aus, daß sie wußte, wo die Toiletten

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