Otherland 4: Meer des silbernen Lichts
und schnell über den Wüstensand glitt. Obwohl die Kinder ihn vorgewarnt hatten, begriff er erst, als er die Erscheinung in wenigen erderschütternden Schritten einen der nahen Berge besteigen und dabei hohe Staubwolken aufwirbeln sah, wie ungeheuer groß sie war.
Sie blieb auf der Kuppe stehen, ein zum Leben erwecktes Riesenstandbild. Die hundeartige Schnauze reckte sich zu einem Heulen empor, und Sekunden später zerriß die Schallwelle die Luft vor dem Kilometer entfernten Tempel. Das Monster senkte den Kopf und lief wieder los.
Paul stolperte zurück ins Tempelinnere. Seine Beine fühlten sich an wie abgebrannte Streichhölzer.
»Er kommt! Dread kommt!« Er stürzte in die Grabkammer und blieb taumelnd stehen. Florimel, T4b und die anderen blickten ihn mit weit aufgerissenen Augen an, die Gesichter völlig ausgemergelt von den nicht enden wollenden Schrecken. »Sie haben recht. Er ist riesig!«
Nur Martine hatte sich nicht umgedreht. Sie blieb der rein weißen menschlichen Silhouette zugewandt, die kurz vorher erst aufgetaucht war und jetzt wie eine Marionette dicht über dem Boden hing. »Sag«, forderte sie die Gestalt auf, »kannst du mit Sellars reden?«
»El viejo?« Das Wesen wand sich, so daß seine Konturen undeutlich wurden. »Manchmal. Ich ’ör ihn. Aber grad ’at voll viel zu tun. Soll ich bei euch bleiben, sagt er.«
»Dann hat er dich zum Tod verurteilt!« Paul hörte an Florimels brüchiger Stimme, daß sie alle Hoffnung verloren hatte. Ein fernes Dröhnen wie von einer gigantischen Trommel – bumm, bumm, bumm! – ließ die mächtigen Steinplatten des Tempelbodens vibrieren.
»Der wird uns zermatschen!« schrie T4b.
»Ruhe bitte!« Martine stellte sich vor den großen schwarzen Sarkophag in der Mitte der Grabkammer. »Bleibt zusammen!« rief sie. »Kann sich jemand um die kleinen Affen kümmern?«
»Was hast du vor?« fragte Nandi Paradivasch, während er die Böse Bande mit dringlichen Handbewegungen aus der Luft herbeiwinkte. Ein paar von ihnen ließen sich auf Paul nieder und klammerten sich an seinen Kleidern und Haaren fest.
»Seid einfach still.« Martine hatte die Augen geschlossen, den Kopf gesenkt. »Wir haben nur noch Momente.«
Der Boden wackelte jetzt bedenklich, als ob tief unter dem Tempel Bomben detonierten. Jeder titanische Schritt war lauter als der davor.
»Höre mich an!« rief Martine. »Seth, Anderer, wie du auch heißen magst – kannst du dich an mich erinnern? Wir sind uns, glaube ich, schon einmal begegnet.«
Der Sarkophag lag still und stumm wie ein unausgebrütetes Ei. Die Erschütterung war jetzt so stark, daß Paul sich breitbeinig hinstellen mußte, um das Gleichgewicht zu halten.
»Issen das für’n Paraladen ’ier?« quäkte die weiße Silhouette ängstlich.
Bonita Mae Simpkins betete. »Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name …«
»Hör mir zu! Ich bin Martine Desroubins«, sagte sie zu dem niedrigen schwarzen Kasten. »Ich habe dir damals die Geschichte von dem Jungen im Brunnen erzählt. Kannst du mich hören? Ich bin hier in dieser Simulationswelt gefangen, und viele andere, die du in dein Netzwerk gebracht hast, auch. Einige davon sind Kinder. Wenn du uns nicht hilfst, werden wir sterben.« Es kam keine Reaktion. Das Schnaufen des herannahenden Monsters dröhnte ihnen wie ein Sandsturm in den Ohren. »Er hört mich nicht«, jammerte Martine mit versagender Stimme. »Ich schaffe es nicht, daß er mir zuhört.«
Der Boden bebte so heftig, daß der ganze Tempel zu verrutschen schien. Gesteinsstaub rieselte die Wände hinunter. Bonnie Mae und T4b wurden zu Boden geworfen. Dann hielten die Schritte inne. Sogar das furchtbare Schnaufen hörte auf.
Paul leckte sich die trockenen Lippen. Er brachte kaum einen Ton heraus. »Noch… nochmal, Martine.«
Sie preßte fest die Augen zusammen und legte die Hände an den Kopf. »Hilf uns, wer oder was du auch sein magst. Herrgott, ich kann es fühlen, daß du mich hörst! Ich weiß, daß du leidest, aber diese Kinder hier werden umkommen! Hilf uns!«
Über ihnen krachte es wie eine explodierende Bombe. Dann eine zweite Detonation, und noch eine, und noch eine. Auf den Rücken geschleudert konnte Paul nur mit ohnmächtigem Entsetzen zuschauen, wie riesenhafte Finger sich hoch oben durch die Steinmauern des großen Tempels bohrten. Im nächsten Moment brach unter weiterem Krachen und Steinepoltern die ganze Decke des höhlenartigen Raumes weg und stieg in die Lüfte empor. Ein
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