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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Anschein vollkommener Willkür und Beliebigkeit. Es war ein Heer reiner Phantasiefiguren, das ihnen da entgegenströmte, die Bevölkerung der verschiedensten Kinderbuchwelten.
    Die vordersten kamen jetzt auf Paul und seine beiden Begleiter zugerannt – anthropomorphe Bären und Schafe, Fische mit Beinen sowie ein hochaufgeschossener Junge und ein rundliches Mädchen, die Paul an eine alte Abbildung zu dem Kinderlied vom spannenlangen Hansel und der nudeldicken Dirn erinnerten, aber deren bekannte Silhouetten ihm im ersten Moment einen ziemlichen Schreck einjagten. Doch aus allen Gesichtern, auch denen, die überhaupt nichts Menschliches hatten, und aus allen schrillen Kinderstimmen sprach unverkennbare Furcht.
    »Was gibt’s?« rief der spannenlange Hansel. »Wer seid ihr? Hat der Eine euch geschickt?«
    »Wer hat die Sterne weggenommen?« kreischte die nudeldicke Dirn.
    »Habt ihr die gute Frau gesehen?«
    »Warum kommt sie nicht zum Brunnen? Warum sagt sie uns nicht, was wir tun sollen?«
    Paul wurde von dem Ansturm der zudringlichen Wesen zum Ufer des pulsenden Meeres mitgerissen wie ein Blatt im Wildwasser. »Martine!« schrie er und kämpfte verzweifelt darum, Bonnie Mae und Nandi festzuhalten, obwohl Unmengen von haarigen Fingern und greiffähigen Flügeln an ihm zerrten. »Florimel! Wo seid ihr?« Jemand zog so heftig an Bonnie Mae, daß Paul, der sie immer noch stützte, das Gleichgewicht verlor und hinfiel. Im ersten Augenblick war er sicher, totgetrampelt zu werden.
    Nach allem, was ich durchgemacht habe, werde ich jetzt von Cartoons umgebracht, dachte er, während er in den Staub gedrückt wurde. Wenn das keine Ironie des Schicksals ist!
    Plötzlich fingen die Leute um ihn herum aufgeregt zu schreien an; die vielen verschiedenen Beine und Füße, die ihn bedrängten, wichen zurück. Paul rappelte sich auf und sah nur wenige Meter entfernt Nandi und Bonnie Mae fassungslos starren. Er schaute sich nach der Ursache ihres Erstaunens um.
    Es war nicht der befremdlichste Anblick des Tages, aber ziemlich verblüffend war es doch.
    Wer da durch die Menge auf sie zugerollt kam, langsam, damit die Märchenwesen aus dem Weg gehen konnten, aber ab und zu mit der Peitsche leicht nachhelfend, war kein anderer als Azador. Breit grinsend saß er auf dem Bock einer unglaublich farbenprächtigen Kutsche, die von zwei Schimmeln gezogen wurde.
    »Ionas, mein Freund!« schrie er, und seine Zähne blitzten unter dem buschigen Schnurrbart hervor. »Da bist du ja! Kommt, du und deine andern Freunde, steigt auf, oder diese Idioten werden euch noch auf die Füße treten.«
    Paul war wie vom Donner gerührt, und das nicht nur wegen der unerwarteten Rettung. In der ganzen Zeit, die er mit Azador unterwegs gewesen war, selbst in den süßen Schlingen des Lotostraumes, war der Mann nicht annähernd so fröhlich gewesen. Paul sah zum Himmel auf, der mittlerweile nahezu pechschwarz war, nachdem die Sterne zu stecknadelkopfgroßen Punkten geschrumpft waren. Wie kann jemand bei alledem gutgelaunt sein? Doch höchstens, wenn er einen Dachschaden hat.
    Dennoch war es besser, als von Teddybären zertreten zu werden.
    Paul kraxelte auf den Wagen und half Nandi und Bonnie Mae auf den Fußtritt neben ihm, dann schnalzte Azador mit der Zunge und knallte mit der Peitsche, und die Pferde wendeten die Kutsche und fuhren auf das flirrende Meer zu.
    »Du wirst schon sehnlich erwartet, mein Freund!« rief Azador. »Du wirst eine große Freude erleben. Wir werden singen und tanzen und feiern!«
    Und nicht bloß einen kleinen Dachschaden, dachte Paul, während sie unter dem verglimmenden Himmel dahinrollten. Eher einen totalen Hau.
     
    Azadors Zigeuner hatten die Dutzende von Wagen, die sie mitgenommen hatten, am Ufer der eigenartigen Wasserfläche im Halbkreis aufgestellt und sich so in ihrer kleinen Stadt auf Rädern vom Rest der Flüchtlinge abgeschottet. Der Schein der vielen Lagerfeuer und das silberblaue Schimmern in dem riesenhaften Krater spiegelten sich auf den lackierten Kutschen. Paul war dankbar für die Erholungspause, auch wenn sie noch so kurz war, aber er mußte sich ständig zu den Hügeln umschauen. Immer noch blitzte es schwertstreichartig über den Höhen, aber die Heftigkeit hatte nachgelassen, so als ob der dort ausgefochtene Strauß sich langsam dem Ende zuneigte.
    Paul setzte keine großen Hoffnungen auf den Ausgang des Kampfes.
    Seine Betrachtungen fanden ein rasches Ende, als mehrere Personen, die seinen Namen riefen, sich

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