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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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lügt?«
    »Nein. Aber ich glaube, daß es nicht mehr mein Körper ist.«
    Martine stutzte. »Was meinst du damit, Paul?«
    »Ich habe nachgedacht – in den kurzen Augenblicken, in denen nicht irgend jemand versucht hat, uns umzubringen, heißt das.« Er rang sich ein schiefes Lächeln ab. »Sehr kurz, die Augenblicke. Jedenfalls glaube ich, daß ich jetzt weiß, was geschah, als Sellars mich aus der Weltkriegssimulation rausgeholt hat. Schau, solange die Gralsleute meinen Körper hatten, hatten sie auch mein Bewußtsein. Sellars – und Ava – konnten nur mit mir reden, wenn ich träumte. Aber irgendwie bin ich aus der Simulation rausgekommen.«
    »Und du meinst …«
    »Ich meine, daß ich die Zeremonie der Gralsbrüder durchlaufen habe – daß mein Bewußtsein irgendwie abgespalten wurde, genau wie sie es für sich selbst planten. Vielleicht war es ein Zufall – ich weiß nicht, was sie dazu bewog, für mich so ein virtuelles Double anzulegen wie für sich selbst. Aber ich glaube, daß es geschah, und Sellars hat dieses virtuelle Double irgendwie zum Leben erweckt. Und dieser zweite, virtuelle Paul Jonas … bin ich.«
    Sie sagte nichts, aber hielt seinen Arm fester.
    »Das heißt, die ganzen Dinge, die mir genommen wurden, die einfachen, banalen Dinge, die mir in Situationen Antrieb verliehen, in denen ich mich am liebsten hingelegt hätte und gestorben wäre, meine Wohnung, mein mittelmäßiger Job, mein ganzes altes Leben … sie gehören mir gar nicht. Sie gehören dem wirklichen Paul. Dem Paul, dessen Körper irgendwo in einem Labor liegt. Und selbst wenn dieser Körper stirbt, kann ich sie niemals haben …«
    Er schwieg eine Weile. Das Reden tat zu weh. Sie gingen weiter den öden Ufersaum ab.
    »Wie waren nochmal diese Verse von T.S. Eliot?« murmelte er, als er sich wieder zu sprechen traute. »Irgendwas wie: ›Ich hätte als ein scharfes Scherenpaar / Über die Gründe stiller Meere trippeln sollen …‹«
    Sie wandte ihm ihr blickloses Gesicht zu. »Bist du schon wieder dabei, dich zu kritisieren?«
    »Eigentlich habe ich von der Landschaft gesprochen.« Er blieb stehen. »Dies ist wirklich der richtige Ort, um auf das Ende der Welt zu warten, was?«
    »Ich habe es satt, auf das Ende der Welt zu warten«, sagte sie. Sie hatte den Kopf eigentümlich schief gelegt.
    »Tja, ich befürchte, wir haben keine Wahl«, meinte er. »Dread steht immer noch da draußen und wartet, und auch wenn Orlando mit den Zwillingen fertiggeworden ist, glaube ich nicht, daß er dem nahezu allmächtigen Monster gewachsen ist, zu dem Dread geworden ist …«
    »Da hast du wahrscheinlich recht. Der Andere hat seinen Ritter ins Gefecht geschickt und sich damit ein wenig Zeit erkauft, aber sonst nichts.«
    »Seinen …?«
    »Seinen Ritter. Erinnerst du dich an das Märchen von dem Jungen im Brunnen? Einer der Leute, die zu seiner Rettung kamen, war ein Ritter. Ich vermute, der Andere hatte Orlando von Anfang an für diese Rolle auserkoren.« Sie legte die Stirn in Falten und hob die Hand. »Sei bitte einmal still. Nicht bewegen!«
    »Was ist?« fragte Paul nach kurzem Schweigen.
    »Der Wasserspiegel sinkt.« Sie deutete darauf. »Kannst du es sehen?«
    »Was es auch sein mag, ich kann’s nicht erkennen.« Doch dann hatte er den Eindruck, daß die Lichter schon wieder ein wenig schwächer geworden waren.
    »Ich spüre, wie ihm die Kraft ausgeht«, sagte sie kummervoll. »Wie einem Motor, der zu lange gelaufen ist. Das Ende kommt jetzt sehr rasch, denke ich.«
    »Was können wir tun?«
    Schweigend lauschte sie eine ganze Weile. »Nichts, fürchte ich. Zurückgehen zu den anderen und mit ihnen zusammen warten.« Sie drehte sich ihm zu. »Vorher wollte ich dich noch um etwas bitten. Magst du mich im Arm halten, Paul Jonas? Nur kurz? Es ist schon so lange her … bei mir. Ich möchte nicht … nicht sterben … ohne noch einmal menschliche Nähe zu fühlen.«
    Er legte die Arme um sie, erfüllt von widerstreitenden Gefühlen. Sie war klein, wenigstens in dieser Bekörperung; ihr Kopf schmiegte sich genau unter sein Kinn, ihre Wange lag an seiner Brust. Er fragte sich, wie sein beschleunigter Herzschlag auf ihre gesteigerten Sinneswahrnehmungen wirken mochte.
    »Vielleicht in einer anderen Welt.« Ihr Mund lag an seiner Brust, ihre Worte klangen gedämpft. »In einer anderen Zeit …«
    Dann hielten sie sich einfach im Arm und sagten nichts mehr. Schließlich ließen sie sich los und gingen Seite an Seite über die graue Erde zum

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