Otherland 4: Meer des silbernen Lichts
Schwerkraft hatte bereits den Vollstreckungsbefehl unterzeichnet.«
»Wie grauenhaft!« Sam mochte gar nicht daran denken. »Er muß so unglücklich gewesen sein.«
Martine trottete die ganze Zeit neben ihnen her wie ein Zombie, doch jetzt kam sie zu sich. »Er hatte … ein bißchen Frieden am Ende. Das habe ich gefühlt. Wenn es nicht so gewesen wäre, gäbe es mich wahrscheinlich nicht mehr.«
»Du hast nicht … alles gefühlt, nicht wahr?« Sellars bremste ein wenig ab, bis er neben ihr schwebte. »Ich hoffe, du mußtest nicht auch noch die allerletzten Momente durchleiden.«
Sie schüttelte müde den Kopf. »Er hat mich weggestoßen. Vor dem Ende.«
»Dich weggestoßen?« Sellars fixierte sie mit seinen scharfen gelben Augen. Sam fragte sich, ob das ihre richtige Farbe war. »Gab es noch einen … Kontakt anderer Art? Hat er etwas gesagt?«
»Darüber möchte ich nicht reden«, erklärte Martine bestimmt.
»Aber wenn der Andere weg ist, warum ist das alles dann noch da?« fragte Orlando. Auch er wirkte beunruhigt. »Ich meine, dies alles war doch bloß … ein Traum, oder? Das Otherlandnetzwerk war sowas wie sein Körper, aber dieser Teil hier war das Innere seines Gehirns, nicht wahr? Also warum ist es nicht weg? Warum hat sich nicht alles um uns herum in Luft aufgelöst?«
»Und wenn das Netzwerk verschwindet, verschwindest auch du – das ist es doch, was du denkst, nicht wahr, Orlando Gardiner?« Sellars’ Stimme war gütig. »Das ist eine gute Frage. Und die Antwort hat zwei Teile, die beide wichtig sind. Den zweiten Teil hebe ich mir auf, bis wir unten angekommen sind – ich habe meine Gründe dafür. Aber Tatsache ist, daß ich mich auf diesen Tag lange vorbereitet habe – ich hatte nur nie damit gerechnet, daß ich die Gelegenheit bekommen würde, diese Vorbereitungen irgendwie zu verwerten. Der wahre Charakter des Andern war mir natürlich bis heute verborgen, aber ich wußte, daß er zumindest zu einem gewissen Grad mit Bewußtsein begabt und sehr gefährlich war. Ich hatte auch den Verdacht, daß das Netzwerk ohne ihn nicht überlebensfähig war. Die Grundbausteine des Systems, der harte Code und die Simulationen, sind in den Unmengen von Prozessoren in der Zentrale der Telemorphix Corporation abgespeichert. Dank dem verstorbenen Robert Wells sind sie dort relativ sicher.«
»Moment mal«, warf Florimel ein. »Der verstorbene Robert Wells? Im Netzwerk war er noch am Leben, in der ägyptischen Simwelt. Wenn wir überlebt haben, hat er das wahrscheinlich auch.«
Sellars’ Lachen klang diesmal weniger freundlich. »Er hat Dread eure Gefangennahme verschwiegen. Dread hat es herausbekommen.« Der alte Mann entfernte sich ein Stück von der Felswand und blickte nach unten. »Also die harten Daten waren sicher, aber dies hier hätte nicht dazugehört.« Er machte mit seiner hageren Hand eine ausladende Bewegung über die Grube, den spiralförmigen Pfad. »Denn dies war ein Teil des Andern selbst. Das heißt, wenn er zerstört wurde, mußte dies alles mit untergehen. Das Ersatzbetriebssystem, das ich mit Hilfe der Leute von TreeHouse im Hinblick auf diesen Tag zusammengebastelt habe, enthielt nichts davon.«
Sellars seufzte. »Jetzt kommen wir zum ersten Geständnis, das ich zu machen habe. Als ich Paul Jonas aus der Simulation befreite, in der Felix Jongleur ihn so lange gefangengehalten hatte, war ich mir nicht völlig darüber im klaren, was ich da tat. Ich wußte nicht, was es mit dem Gralsprozeß tatsächlich auf sich hatte, und noch weniger, wer der Andere in Wahrheit war. Ich hatte keine Ahnung, daß er für Paul einen der virtuellen Doppelgänger angelegt hatte, wie sie die Gralsbrüder für sich erzeugten. Ich bin mir immer noch nicht sicher, warum er das tat, aber ich vermute, es hing damit zusammen, daß Avialle Jongleur in Paul verliebt war und daß der Andere eine tiefe Zuneigung zu ihr gefaßt hatte.
Auf jeden Fall gab ich ihm in meiner Kurzsichtigkeit die Freiheit. Ich dachte nur daran, sein Bewußtsein aus Jongleurs Klauen zu bekommen, damit ich herausfinden konnte, was er wußte und warum er festgehalten wurde. Doch er entkam nicht nur seinen Verfolgern, sondern auch mir. Erst später wurde mir klar, daß ich eine virtuelle Kopie befreit hatte – daß der echte Paul Jonas immer noch bewußtlos in den unterirdischen Gewölben der Telemorphix Corporation lag.«
Martine stieß einen Laut aus, als hätte sie einen Schlag bekommen. »Der echte Paul Jonas …«, murmelte sie. Sam
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