Otherland 4: Meer des silbernen Lichts
fliegen.
Ich hab diese ganzen Scännereien satt, dachte sie. Ich will nur noch nach Hause. Ich will Mama und Papa wiedersehen …
»Wie die Himmelfahrt umgekehrt.« Florimel klang gereizt und nervös.
»Halt dich einfach an deinem Sitzkissen fest«, bemerkte Orlando ironisch. »Die sind bei sowas total praktisch. Deshalb weisen sie einen immer drauf hin.«
Klar, und meinst du nicht, daß Orlando auch gern nach Hause käme? Es war ein schmerzhafter Gedanke.
»Rett mich, Jesus!« schrie T4b.
Zwei Minuten Fall, fünf, es war schwer zu sagen. Trotz des Eindrucks von Geschwindigkeit bremsten sie nicht ab, als sie unten ankamen, sondern hielten einfach schlagartig an und standen nunmehr auf einem glatten Steinboden. Die Wände erstreckten sich jetzt nur noch in die Höhe und bildeten einen unglaublich langen, riesigen Schacht mit dem Kreis des Nachthimmels am Ende. Doch der Ort, an dem sie sich befanden, hatte sein eigenes Licht.
»Hier«, sagte Sellars, dessen Rollstuhl nach wie vor schwerelos über dem Boden schwebte. Er fuhr voraus zu einer großen Spalte in der Wand, aus der sich ein warmes, leicht rötliches Licht ergoß.
»Ich wette, wir müssen doch noch was töten«, flüsterte Orlando. Er tippte mit dem Schwert an den steinernen Rand der Spalte. Es gab ein metallisches Klirren.
Sam trat durch die Öffnung und befand sich auf einmal in einem großen, strahlend hellen Raum, dessen Seiten wie Lichterwaben wirkten. Drei Gestalten standen dort in der Mitte, als warteten sie auf etwas. Sam hatte bereits eine Hoffnung, doch sie spähte genau hin, um ganz sicher zu sein.
»Renie?« rief sie. » !Xabbu ?« Und schon lief sie auf die beiden zu.
Die Angerufenen drehten sich überrascht um. Die dritte Gestalt, die etwas an der Brust hielt, regte sich nicht. Sellars glitt an Sams Seite, und sein welliges Gesicht wirkte in dem nahezu richtungslosen Licht noch surrealer.
»Halt, Sam!« sagte er mit einem ungewöhnlichen Ton in der Stimme. »Warte.«
Zögernd hielt sie an. Sellars schwebte ein Stück voraus, dann blieb er in der Luft stehen. Er beachtete Renie und !Xabbu gar nicht, sondern wandte sich allein an den Dritten. »Wer bist du?«
Erkennt er denn diesen Klement nicht? wunderte sich Sam. Er weiß doch sonst alles.
»Wart’s ab«, bemerkte Orlando leise neben ihr. Er hatte sich lautlos wie eine Katze angeschlichen. Als er ihren Arm berührte, fühlte sie die vibrierende Kraft in seiner breiten Hand. »Ich wette, das ist der, den wir töten sollen.«
»Das ist Ricardo Klement«, erklärte Renie Sellars, wobei sie ebenfalls verblüfft dreinschaute. »Einer aus der Gralsbruderschaft. Er ist eine Weile mit uns gezogen.«
»Nein.« Der Mann stand eine ganze Weile unbewegt da, bevor er den Kopf schüttelte, als hätte er sich erst auf die Geste besinnen müssen. Sam sah jetzt, was er in der Hand hielt, konnte sich aber auf den grotesken, halb menschlichen Klumpen keinen Reim machen. »Nein, ich bin nicht Ricardo Klement. Ich trage den … Körper … der für den Genannten bestimmt war. Eine Zeitlang, am Anfang, denke ich … dachte ich … ich wäre Ricardo Klement. Weil es konfus macht, dieses Körperleben. Es macht das Denken … unklar. Aber ich bin nicht der Genannte.
Mein Name ist Nemesis.«
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NETFEED/NACHRICHTEN:
Endlich Einigkeit im Nahen Osten
(Bild: Juden und Araber demonstrieren gemeinsam an der Westmauer)
Off-Stimme: Die Erzfeinde Palästinenser und Israelis haben endlich etwas gefunden, worin sie sich einig sind: ihren Haß auf die UN-Schutzherrschaft über Jerusalem.
(Bild: Professor Yoram Vul vom Washingtoner Brookings Institute)
Vul: »Zusammenzubringen sind diese Leute anscheinend nur dadurch, daß jemand anders den Versuch unternimmt, ihrem gegenseitigen Morden Einhalt zu gebieten. Es wäre zum Totlachen, wenn es nicht so tragisch wäre, aber nachdem bei dem Bombenanschlag auf den Hashomaim-Tunnel schon wieder elf Soldaten der UN-Friedenstruppe ums Leben gekommen sind, ist der häufigste Kommentar, den man zu hören bekommt: ’Was regt ihr euch so auf – das hier ist der Nahe Osten!’«
> Ihr verdatterter Blick irrte hin und her – von dem Wesen, das sie für Ricardo Klement gehalten hatte, zu ihren verloren geglaubten Gefährten. Renie hatte nicht damit gerechnet, sie jemals wiederzusehen, und konnte ihr plötzliches Auftauchen gar nicht fassen, doch genau wie sie selbst und !Xabbu standen die anderen nur verwirrt da, statt freudig Wiedersehen zu
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