Otherland 4: Meer des silbernen Lichts
achtundvierzig Stunden wieder in meinem Körper. Ich habe dreimal gebadet, zweimal eine Kleinigkeit gegessen, mich beide Male sofort übergeben und wenigstens sechs oder sieben dieser achtundvierzig Stunden weinend mit scheußlichen Muskelkrämpfen verbracht. Mein Körper ist nicht restlos glücklich darüber, daß ich wieder in ihn eingezogen bin.
Ich bin schwach wie eine Maus.
Dennoch bin ich – mit Sellars’ Hilfe – an meine Journaleinträge herangekommen. Ich hätte nie erwartet, sie noch einmal zu hören. Da ich nicht schlafen, ja mich nicht einmal gemütlich hinlegen kann, bin ich in meiner unterirdischen Behausung langsam hin- und hergeschlichen und habe sie mir angehört.
Es ist die Stimme einer anderen Frau. Ich kenne sie, doch ich bin das nicht. Schon jetzt kommen mir diese Stunden, diese irrsinnigen Welten wie ein Traum vor. Ein furchtbarer Traum, gewiß, aber dennoch nur ein Traum.
Die Frau, die diese Diktate sprach, diese Aufzeichnung ihrer Gedanken und Ängste hinterließ, diese Martine war blind, aber sie war in der Lage, Dinge zu sehen, die andere sich nur denken konnten. Die Martine, die sich diese Diktate jetzt anhört, die diesen neuen Eintrag spricht, diese Martine kann sehen. Dagegen ist sie blind für alles, was die andere Martine hatte, und für vieles, was sie wußte.
Ich kann sehen. Ich bin blinder als je zuvor. Ich … ich kann nicht …«
»Neuer Anfang. Ich mußte ein Weilchen Pause machen, und jetzt liege ich hier im Dunkeln. Es ist immer noch ungewohnt, sehen zu können, sehr ungewohnt. Mir tut der Kopf weh von der Anstrengung, alles verschwimmt mir vor den Augen. Jemand, ich weiß nicht mehr wer, sagte einmal zu mir: ›Jede Verletzung ist ein Geschenk, jedes Geschenk eine Verletzung.‹ Irgendein verfluchter Therapeut oder Augenarzt wahrscheinlich, aber ach, es ist so wahr, so wahr – jetzt, wo mir in doppelter Hinsicht die Augen geöffnet wurden.
Der Andere … er war es, der mir vor langer Zeit das Augenlicht nahm. Ich verstehe das jetzt, verstehe die ratlosen Ärzte, die unbeantworteten Fragen hinter der Diagnose ›hysterische Blindheit‹. Ich glaube nicht, daß er es aus Bosheit tat, auch nicht zufällig, wie er nach Sellars’ Meinung die Kinder ins Koma stürzte, nur damit sie still und gefügig wurden. Nein, er war mir dort im Pestalozzi-Institut in der Dunkelheit nahe, war mir in einer Weise nahe, die ich damals nicht verstehen konnte – er war nicht nur in meinen Ohren, sondern auch in meinem Kopf. Und als die Lichter angingen und mich blendeten und mir weh taten, so daß ich wie wild kreischte, wollte er mir etwas Gutes tun. Er löschte mir das Licht aus.
Im Sterben hat er es mir zurückgegeben.
Er hat mich am Ende berührt, wenigstens bilde ich mir das ein. Ich fühlte ihn, fühlte ihn genauso wie damals als Kind. Einen kurzen Moment lang waren wir wieder Kinder, zwei Kinder, die sich im Dunkeln fürchten. Er … berührte mich, als er endgültig Abschied nahm. Er berührte mich, dann war er fort.
Ich wünschte, ich wäre am Ende bei ihm gewesen, als er flammend vom Nachthimmel stürzte wie ein göttlicher Blitzstrahl. Vielleicht wäre ich dann in der großen Feuersbrunst mit umgekommen. Das wäre eine einfache Lösung gewesen. Ich sehne mich nach einer einfachen Lösung, obwohl ich viel zu feige bin, um selbst eine herbeizuführen.
Hör nur, Martine redet wieder einmal mit sich selbst, wie immer. Allein. In selbstgewählter Dunkelheit, obwohl ich jetzt sehen kann. Wieder in meiner Welt, meiner Unterwelt.
Für die anderen geht das Leben weiter. Sellars, sein Freund Ramsey und Hideki Kunohara sind schon eifrig dabei, die Zukunft zu organisieren. Renie und Florimel haben ihre Lieben, um die sie sich kümmern können – sie brauchen mich jetzt nicht. Und wem könnte ich schon von nutzen sein? Ich dachte einmal, ich könnte Paul Jonas helfen. Mir wurde klar, wenn auch ihm nicht, daß es für ihn offline kein Leben gab. Ich hatte sogar Phantasien, wir könnten, falls wir überlebten, so etwas wie ein gemeinsames Leben im Netzwerk führen – ein virtuelles Leben, aber immerhin. Die Hexe und der Irrfahrer. Die Schutzgeister des Anderlandes.
Dieser Traum hat sich zerschlagen. Paul ist tot, und ich habe die Besonderheit verloren, die mich auszeichnete, mich wertvoll machte. Jetzt, wo mein Sehvermögen nicht mehr blockiert ist, müht mein Gehirn sich ab, neue Verbindungen herzustellen, alte umzustellen. Die Otherlanddaten, die ich früher lesen konnte, wie
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