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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Geißelspinne, wie Kunohara das skorpionähnliche Ding genannt hatte. Paul sah, daß Martine und ihre geschrumpften Gefährten sich tief in die Falten an der Unterseite eines großen Blattes duckten, das von den bombenartigen Treffern der Regentropfen geschüttelt wurde. Er streckte die Hand aus, aber es war nur ein Bildfenster – er konnte nichts zu ihrer Hilfe tun. Die Geißelspinne kam einen Schritt näher, wobei ihr Rumpf zwischen ihren entsetzlich langen Gliederbeinen hing wie in einer Wiege. Ein schlanker Fühler, der wie eine versteifte Kutscherpeitsche aussah, schob sich langsam, fast zärtlich auf sie zu.
    »Du hast doch diese Mutanten vernichtet«, schrie Paul. »Warum kannst du meine Freunde nicht retten?«
    »Die Mutanten gehörten nicht hierher. An der Geißelspinne ist nichts auszusetzen.« Hideki Kunohara klang beinahe beleidigt. »Sie gehorcht nur ihrer Natur.«
    »Wenn du ihnen nicht helfen willst, dann versetz mich hin. Oder laß mich wenigstens zu ihnen gehen.«
    Kunohara sah ihn mißbilligend von der Seite an. »Du wirst sterben.«
    »Ich muß es wagen.«
    »Du kennst diese Leute doch kaum, das hast du mir selbst gesagt.«
    Tränen traten Paul in die Augen. Der Zorn dehnte sich in ihm aus wie Dampf, drohte ihm die Schädeldecke zu sprengen. Im Hintergrund hörte er die dünnen Schreie, die Martine und die übrigen ausstießen, als die ungeheuerliche Spinne weiter heranrückte. »Du begreifst gar nichts. Monatelang, vielleicht jahrelang bin ich umhergeirrt. Allein! Ich dachte, ich wäre verrückt. Sie sind alles, was ich habe!«
    Kunohara zuckte mit den Achseln, dann hob er die Hand. Im nächsten Moment waren die Blase, das Fenster und sein stoisches Gesicht verschwunden, und an ihre Stelle war eine Schreckensszene getreten.
    Paul befand sich irgendwo auf dem Waldboden. Berghohe Baumstämme, von denen kaum mehr als der Fuß zu sehen war, ragten um ihn herum in den Nachthimmel. Überall zischten und krachten Tropfen nieder, die so groß wie Mülltonnen, mitunter sogar wie Kleinwagen waren. Wenn sie aufschlugen, hüpfte der ganze mulchige Untergrund in die Höhe.
    Jäh überkam ihn die Erinnerung an das Grauen der Schützengräben von Amiens, an das unpersönliche Vernichtungswerk der schweren deutschen Artillerie, und wie um die Illusion zu verstärken, zuckten blendend helle Blitze über den Himmel. Rechts von ihm bewegte sich etwas mit einem lauten ledrigen Knarren, das er selbst über das Donnern der Regentropfen hinweg hörte. Der Boden bebte unter seinen Füßen. Als Paul sich umdrehte, schlug ihm das Herz bis zum Hals.
    Die Skorpionspinne schob sich noch einen Schritt näher an das Blatt heran und erstarrte dann wieder bis auf die tastenden Fühler. Im Vergleich zu Paul war sie so groß wie ein Feuerwehrwagen, aber viel höher, ein breiter, länglicher Körper mit darüber hinausragendem Beingestell ringsherum. Soweit er sehen konnte, hatte sie keinen Schwanz, aber die vor dem Kopf eingeschlagenen, stoßstangenartigen Fangarme waren mit spitzen Dornen besetzt, die eine Beute so eisern festhalten konnten wie ein Krokodilsrachen. Zwei rote Punkte vorne am Kopf, die im Blitzschein zu sehen waren, machten den Eindruck bösartiger Augen, so als hätte die Bestie im Höllenschlund geschlafen und wäre jetzt wütend darüber, daß man sie geweckt hatte.
    Von einem der hohen Blätter ging eine Wasserladung auf die Spinne nieder. Sie duckte sich unter dem Guß auf den Boden und wartete geduldig ab, bis er vorbei war. Einen Moment lang hatte Paul freien Blick an ihr vorbei auf die Höhlung unter einem herabhängenden Blatt, das so groß war wie eine Skihütte, und auf bleiche menschliche Gesichter, die im fahlen Mondlicht wie Perlen schimmerten. Er machte ein paar Schritte auf sie zu, doch da stemmte sich die Geißelspinne wieder knarrend in die Höhe.
    »Martine!« Seine Stimme ging im Bombardement des Regens unter. Er raffte hastig einen faserigen Prügel auf, der so lang war wie sein Arm, eine Baumnadel oder ein Dorn, und schleuderte ihn auf die Spinne. Das Geschoß prallte harmlos an ein Bein der Bestie, doch die Bewegung erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie blieb stehen und schwenkte eine ihrer Geißeln in Pauls Richtung. Da begriff er, was er getan hatte, und erstarrte vor Schreck. Der Fühler, ein hornartiges Gebilde von zwanzig Meter Länge und doch nicht viel breiter als Pauls Arm, strich nur um Armeslänge an ihm vorbei. Sein Herz schlug dreimal so schnell.
    Was habe ich mir dabei bloß gedacht?

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