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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Gottesdiensten – bei jeder
Aussegnungszeremonie – hatte Owen Meany den Vorsitz inne.
    In jenem Dezember 1953, bei den Proben des Krippenspieles wie
beim Anprobieren von Potters Präservativen im zweiten Stock von Waterhouse
Hall, war mir nur undeutlich bewußt, daß Owen der Dirigent eines ganzen
Orchesters von Ereignissen war – und überhaupt nicht bewußt war mir, daß diese
Orchestrierung zu einem einzigen Ton führen würde. Nicht einmal in Owens
seltsamem Zimmer nahm ich genug wahr, obwohl einen unweigerlich das Gefühl
beschlich, daß dort – als allermindestes – langsam aber sicher ein Altar
errichtet wurde.
    Es war schwer zu sagen, ob die Meanys Weihnachten feierten. Ein
Bündel Kiefernäste war nachlässig zusammengebunden und mit einer riesigen,
häßlichen Krampe – von der Sorte, wie sie in der Industrie benutzt werden – an
der Eingangstür ihres Hauses befestigt worden. Die Krampe sah aus, als könne
sie Granit an Granit binden oder Jesus am Kreuz festhalten. Doch die
Kiefernzweige [260]  waren nicht etwa kunstvoll
angeordnet – sie wirkten keineswegs wie ein Kranz; es war eine formlose Masse,
wie das Nest eines Tieres, das hastig gebaut und dann fluchtartig verlassen
wurde. Drinnen, im staubfreien Haus, stand kein Baum; es gab keinen
Weihnachtsschmuck, nicht einmal Kerzen in den Fenstern, nicht einen einzigen
klapprigen Weihnachtsmann, der an einer Tischlampe lehnte.
    Auf dem Kaminsims über dem ständig glimmenden Feuer – in dem die
Holzscheite entweder chronisch naß waren, oder die Kohle seit Stunden nicht
mehr aufgestochert worden war – standen ein paar sparsam bemalte Holzfiguren,
die Christi Geburt darstellten. Die Kuh hatte nur drei Beine – und war so
wackelig wie Mary Beth Bairds Kühe; sie lehnte an einem recht bedrohlich
aussehenden Küken, das halb so groß war wie die Kuh und dessen Proportionen
denen von Barb Wiggins Tauben sehr ähnelten. Eine Furche durch das
fleischfarben bemalte Gesicht der Muttergottes hatte dieselbe offensichtlich
erblinden lassen und so fürchterlich entstellt, daß jemand aus der Familie der
Meanys sie rücksichtsvoll mit dem Rücken zur Krippe gestellt hatte – doch, da stand eine Krippe. Josef hatte eine Hand verloren – vielleicht hatte er sie sich selbst abgeschlagen, in einem Anfall von
Eifersucht, denn in seinem Gesichtausdruck lag eine dunkle Glut, als habe das
rauchige Feuer, das den Sims mit Ruß überzog, auch Josefs Gemüt verdüstert. Die
Harfe eines Engels war kaputt, und aus dem o-förmigen Mund eines anderen Engels
konnte man eher auf Wehklagen als auf frohlockenden Gesang schließen.
    Doch die unheilverkündendste Botschaft des Ganzen war, daß der
kleine Herr Jesus fehlte; die Krippe war leer – das war der Grund, weshalb die
Jungfrau Maria ihr verstümmeltes Gesicht abgewandt hatte; weshalb ein Engel
seine Harfe zertrümmert hatte und ein anderer gepeinigt aufschrie; weshalb
Josef eine Hand verloren hatte und eine Kuh ein Bein. Das Jesuskind war weg – war gekidnappt worden oder weggerannt. Das Objekt der [261]  Verehrung
war bei der traditionellen Versammlung nicht anwesend.
    Mehr Ordnung, eine deutlichere göttliche Führung, war in Owens
Zimmer zu erkennen; doch auch hier gab es nichts, was auf die Weihnachtszeit
hindeutete – abgesehen von dem weihnachtssternroten Kleid, das die Schneiderpuppe
meiner Mutter anhatte; doch ich wußte, dieses Kleid war das einzige, das die
Puppe trug, das ganze Jahr über.
    Die Puppe hatte am Kopfende von Owens Bett Stellung bezogen – noch
näher am Bett als damals im Schlafzimmer meiner Mutter. Mir war sofort klar,
daß Owen von dort, wo er nachts lag, nur die Hand auszustrecken brauchte und
die vertraute Gestalt berühren konnte.
    »GUCK DIE PUPPE NICHT SO AN«, ermahnte
er mich, »DAS IST NICHT GUT FÜR DICH.«
    Doch für ihn war es offensichtlich gut – denn da stand sie, direkt über ihm.
    Die Baseballkarten, die einst so offen in Owens Zimmer herumgelegen
hatten, waren ganz bestimmt nicht weg, doch man konnte sie nicht mehr sehen. Es
war auch kein Baseball zu sehen – obwohl ich sicher war, daß der mörderische
Ball irgendwo im Zimmer lag. Die Vorderkrallen meines Gürteltieres waren sicher
auch irgendwo, aber auch sie waren nicht zu sehen. Und das Jesuskind, das aus
der Krippe gerissen worden war… ich war überzeugt, daß der kleine Herr Jesus
sich in Owens Zimmer befand, vielleicht in der Gesellschaft von Potters
Präservativ, das Owen mit nach Hause genommen hatte, das

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